BuchBaum 00000 / Ast 1.3 vom 11062015
Lothar Köster [i]
Vorrentner-Glück
"Moin, 7" - "Mojen auch, 13"
Zwei Mäntel, zwei Hüte.
Martin Naujoks goss zuerst die drei Zimmerpalmen, setzte die Kaffee-Portion Nr. 1 auf, spülte die beiden Porzellantassen aus und schaltete den Computer ein.
Horst Brettmüller zerteilte zuerst die Zeitung in Sport/Kultur und Berlin/Welt für die beiden Schreibtische auf, fütterte die Fische, riß das Kalenderblatt ab und sortierte seine Morgen-Tabletten.
Nach der ersten halben Stunde und gegenseitigem Nicken tauschten sie die Zeitungsteile.
Später ging Horst mit einer Akte durch das Haus, um Kontakte zu pflegen. Der Computer, gerade durch ein aktuelles Topmodell ersetzt, blieb aus. Alle Anfeindungen hierzu hatte er ausgesessen.
Martin war jetzt frei, seinen Kaffee zu schlürfen und in Baumarktseiten zu recherchieren. Das Wochenendhäuschen, er stimmte sich mehrmals telefonisch mit seiner Frau (Meldeamt, Kasse) in Details ab.
Am späten Vormittag begann die Arbeit. Sie sichteten die Akten, die man ihnen gegen jede Vernunft gestern nach ihrem Dienstschluß auf den Schreibtisch gelegt hatte. Ihr Verteilverfahren war eingespielt, immerhin hatte jeder seine speziellen Verbindungen und Verbündeten. Jeder schaute kurz in die Deckel, klebte Klebezettel mit Kürzeln darauf und warf dieselbe auf den Ablagewagen.
Es gab erstaunlich junge, erstaunlich ehrgeizige Kollegen, jederzeit bereit, sich Lorbeeren zu verdienen für die noch kommenden Jahrzehnte der Laufbahnen. Oder es gab Kompetenzen, Zuständigkeiten, Erfahrungshintergründe, Anknüpfungen an andere Fälle, egal wie alt.
Diesmal waren es sogar dreizehn Aktendeckel. Martin war mit dem ungeraden Überhang an der Reihe und kam deshalb mit drei Vorschlägen zur zentralen Einsatzberatung, die traditionell stehend über dem Aktenwagen abgehalten wurde. Sie überflogen die Vorschläge des Partners und vergeudeten keine Zeit mit langen Entscheidungsgrübeleien. Drei bis vier Minuten wurde beraten. Nicht gequatscht, sondern Kopfwiegen oder Kopfnicken. Dann nahm jeder seinen Teil auf seinen Schreibtisch, um ihn mit einigen konzentrierten Telefonaten zu delegieren.
Natürlich mußten Sie irgend einen Fall auch selbst übernehmen. Ihre Wahl war stets gut erwogen. Horst war wirklich schlecht zu Fuß, Martin vertrug weder Hitze noch Kälte. Daher war wie jedesmal genau eine Akte auf dem Wagen liegengeblieben. Nach dem Mittagessen würde man sich darum kümmern.
Martin hatte noch 7 Wochen, Horst noch 13 Wochen bis zum Ruhestand.
Observationen und Personenüberprüfungen, dafür gab es Praktikanten und Streifenhörnchen. Für Recherchen waren sie einfach zu ungelenk mit der Technik. Zwei Fälle rochen, wenn man wollte, nach Drogen und gingen gleich außer Haus. Mit der Witwe des erstochenen Zechprellers reden, soziales Umfeld erkunden und Ablauffragen klären? Das ging ja wohl gar nicht! Die hatte halbstarke Söhne! Das blieb an Meier hängen, dem 2-Meter-Vorzeige-Bullen.
Sie blickten auf die Uhr, nickten sich zu, standen auf und klopften im Vorbeigehen beide noch einmal auf den einen Aktendeckel ihrer Wahl, eine in Jahren bewährte Beschwörungshandlung. Möge von diesem deutschen Deckel niemals Unordnung, Gefahr oder gar Arbeitsdruck ausgehen. Wenigstens nicht für sie beide. Es gab einen akzeptablen Schweinebraten und Schokoladenpudding.
"Wir sollten dann mal ..." Es war 14:15 Uhr, Zeitung und Kaffee waren aus. "Wer ist dran?" Horst schlug den Kalender auf, zeigte auf Martin und lehnte sich zurück. Der ging es ruhig an. So eine Akte will studiert sein, bevor man sich dazu äußern kann. "Ziemlich exotisch" Horst räumte etwas auf. "Ziemlich vegan" Mülltrennung war nie falsch. "Ziemlich flach" Zeitung links, Werbung rechts. "Ziemlich zierlich"
"Nun sag schon, muß ich mir Sorgen machen? Brauche ich einen Arzttermin?" - "Mein lieber Horst, wir haben eine ziemlich gute Wahl getroffen. Die Sache ist genau das richtige für unsere Gemütsverfassung." Er berichtete kurz, aber anschaulich. Martin war nicht überzeugt. "Soll ich mich mit Altkleidern herumschlagen?" - "Mit dem Fall kannst Du in Ruhe Deine letzten Wochen füllen. Jedenfalls, wenn Du nicht auf Ruhm aus bist."
Ein Blick aus dem Fenster, ein Anruf bei der Bereitschaft, und der Nachmittag gestaltete sich angenehm. Selbstverständlich wurde ihnen das Tor aufgeschlossen. In respektvollem Schrittempo glitten sie über die Landebahn und bestaunten die zahlreichen Feldbesucher an diesem sonnigen Nachmittag. Es gab eine Absperrung, die vom privaten Sicherheitsdienst bewacht wurde. Schaulustige waren nicht zu sehen, dazu gab es zu viele andere Attraktionen und Lustbarkeiten auf diesem Feld.
"Können wir uns solche Klamotten leisten?" - "Von unserer Rente sicherlich nicht." Horst zuppelte ein wenig an der ausgebreiteten Kleidung herum und wiegte besorgt das Haupt. "Wie sollen wir denn mit diesem attraktiven Kleiderhaufen unsere letzte Durststrecke bis zur Rente überdauern?" - "Da hilft uns diese lässig abgelegte Waffe. Daran werden wir uns wie die Bluthunde festbeißen. So was kann eine Agentengeschichte werden." - "Willst Du im Ruhestand einen Krimi schreiben?"
Sie machten ein paar Fotos, ließen den Kollegen von der Bereitschaft die Kleidung einsammeln und bliesen zum Rückzug. Zuvor hatte sie allerdings mit großer Geste die Schußwaffe in einen Beweismittelbeutel geschoben und persönlich in Verwahrung genommen.
Der Wagen glitt an Horden spielender Kinder vorbei. "Großer Krimiautor, wie biegen wir das hin? Wir können nicht darauf hoffen, daß die Waffe registriert ist." - "Erst einmal geben wir sie mit großer Geste und höchster Dringlichkeit ins Labor. Wenn wir unhöflich sind, kann das schon mal eine Woche dauern." - "Keine überzeugende Strategie. Wir brauchen eine Geschichte, ein Bedrohungsszenarium, sonst haben wir morgen wieder einen Wagen voller Akten im Zimmer." Ein Dreijährige kam mit einem Gehroller auf sie zu. Als der Fahrer bremste, warf der Knabe den Roller von sich, setzte sich auf den Asphalt und beäugte mit offenem Mund das große Auto vor ihm. "Das Feld schürt schon früh den Widerstandsgeist. Machen Sie jetzt nicht denselben Fehler wie die Maos damals!" Der Fahrer verstand und schaltete den Motor ab, was den Dreijährigen sehr enttäuschte.
"Wir könnten eine vage Zeugenaussage gebrauchen. Nackter Mann, Vollbart, tschetschenische Gangart." - "Terroristisches Trainingslager in Tempelhof, drogenfinanziert? Was liest Du für Blätter?!" Der Knabe wurde von seiner größeren Schwester aufgelesen und unter Geschrei fortgeführt. "Wir müssen den morgigen Tag kreativ nutzen. Irgend etwas ist uns immer eingefallen." Scharen von Radfahrern umkurvten sie. Jogger machten eine Ehrenrunde um den schleichenden Streifenwagen, Halbwüchsige warfen ihre Bälle auf die Motorhaube, um sich dann sehr lautstark zu entschuldigen und kichernd fortzulaufen. Mit großem Bahnhof wurden sie am Tor aus dem Feld entlassen und rollten dann im Schittempo durch die Enge der Oderstraße. Die alten Herren grübelten sich bereits in den nahenden Feierabend und hatten bis zuletzt nicht bemerkt, daß das Fahrzeug ausgerollt war. Erst ein schwerer Schlag auf das Dach weckte sie wieder auf. Irgend etwas an der Verkehrssituation war nicht Neukölln-echt. Ein dezenter Rundblick belehrte sie, daß um das Auto herum völlig uninteressierte Typen standen, lückenlos. Der Fahrer stellte erneut den Motor ab und schaute ängstlich durch den Rückspiegel in ihre Gesichter. "Ou-ou-ou"
Dann geschah nichts. Sehr lange. Erst viel später bemerkten sie aus dem Augenwinkel eine langsame Bewegung. Eine Person kam von der Seite auf sie zu, gekleidet wie ein warm eingepacktes Mütterchen, dafür aber etwas zu kräftig in der Figur. Mit dem kleinen Finger klopfte Sie an die Seitenscheibe. "Tschetschenen!" Ein kräftiger Schlag auf das Dach, und der Fahrer ließ die Seitenscheibe herunter. "Die Kleider bitte." - "Ich ziehe mich nicht aus!" Die Hand wies auf den Kofferraum, ein weiterer Schlag war nicht nötig. Er stieg aus, öffnete den Kofferraum, händigte den Beutel aus und stieg wieder ein, alles völlig lautlos. Einige Sekunden Stille. Dann kam Bewegung in die uninteressierte Gruppe, wie eine leichte Windböe in junge Birken. Leute gingen und kamen, Fahrräder klapperten, ein Kind schrie, ein Auto hupte hinter ihnen. Der Fahrer schaltete den stillen Notalarm ab und fuhr los. "Völlig unnütze Technik."
Die beiden alten Herren hatten sich den ganzen Vorgang zurückhaltend, aber interessiert angesehen. "Eine sehr kreative Lösung für unser Problem, findest Du nicht?"
|