BuchBaum 00000 / Ast 1 vom 11062015
Lothar Köster [i]
Der leere Anzug
Ordnung an der falschen Stelle
Es war 6:02 Uhr, das Tor sollte jetzt offen sein, war es aber nicht. "Das darf doch wohl nicht ..." Der Skater apportierte mit dem obligatorischen, lässigen Fußtritt sein Board in die Höhe, in seine lässige Hand hinein und damit in überdeutliche Bereitschaft. "Das verstehen die unter 100% ..." Erfreut nahm er zur Kenntnis, daß er gerade ein Publikum bekommen hatte, und begann auf dem Brett zu trommeln.
Die Joggerin lief völlig wertungs- und mitleidsfrei um ihn herum und direkt durch das Tor. Nun ja, fast, sie erkannte den abweichenden Zustand im letzten Moment und kam mit leichtem Nasenkontakt zum Stehen. "Uuuups!" - "Ab heute nur mit Anmeldung!" Sie prüfte noch einmal mit der Hand, was ihr Auge und ihre Nase schon ziemlich deutlich gezeigt hatte, zuckte mit den Schultern und begann, eine ausladende Acht vor dem Tor abzulaufen. Sie tänzelte leichtfüßig und erkennbar verträumt ihre ewig-eine Bahn, er stand erkennbar lässig am Tor und trommelte den ihm gestohlenen Sekunden hinterher.
Die Unpünktlichkeit dieses Tores versperrte nicht etwas den Zugang zum Meldeamt oder zur Schwimmhalle, sondern zum Vorgarten, wie man das Tempelhofer Feld in Neukölln gerne nannte. Man konnte hier zu Fuß, zu Rad oder zu beliebig vielen Rädchen in der Ferne verschwinden und die Zeit vergessen. Vor dem Tor war das natürlich etwas ganz anderes.
Der Wagen kam angerollt, er rollte in der Stille des Feldes aus. Der sehr vollschlanke, sehr privat uniformierte Mann mit Schlüssel am Finger schaute erst prüfend auf das Feld, ehe er den Bogen zum Tor aufnahm, abschritt und zuletzt sehr sorgfältig das Schloß öffnete. Jedem der dummerweise Anwesenden zeigte er überdeutlich, wie unbeeindruckt ihn die Tatsache ließ, die jeder kannte: Das er sich verspätet hatte! Um drei Minuten! Deutsche Minuten, quasi in D-Mark!
Der Skater ließ sein Brett scheppernd auf den Boden fallen, sprang lässig darauf und begann eine Gleitfahrt ins Offene, sieben Zentimeter am Ohr des Torwächters vorbei. Die Joggerin vollendete die siebente Acht und trippelte dann im Bogen durch das Tor. "Moin" - "Moin, Moin" Hier auf dem Feld begegnete man sich stets wieder, speziell morgens kurz nach 6:00 Uhr.
Sie schaltete die Health-App ein. Ein kräftiger Touch auf das Sport-Smarty, das an ihrem Oberarm mitwackelte und ab jetzt alles aufzeichnen und bewerten würde. So überwacht konnte sie lange vor dem Aufstehen einfach draufloslaufen. Hier verlief sich keiner, und selbst dreißig-Sekunden-Traumphasen waren auf der Breite der Landebahnen kein Sicherheitsproblem.
Aber der Wind. Die freie Fläche war ja wirklich gelungen, aber gegen den Wind hatte noch keiner was unternommen. Nach den ersten drei Minuten ihrer Runde blies er ihr so rabiat ins Gesicht, daß sie sich für die Umkehrung der Laufrichtung entschied. Hier war kein Querweg, aber auch kein Zaun. Sie hoppelte über den rauhen Rasen und mußte nun doch auf Kaninchenlöcher achten. Quer vor sich sah sie die Landebahn, auf der dieser pünktlich-lässige Skater einige größere Figuren fuhr. Vor dort käme sie rechts an die windgeschützten Außenwege, und später dann: Rückenwind!
Zunächst aber blies ihr der Wind ins Ohr. Das stetige Bullern und die Möglichkeit von Kaninchenlöchern hielt sie wach in ihrem Traben. Der Kerl dreht einfach nur Kreise, dachte sie für sich, das kann doch jedes Kind mit dem Fahrrad besser. Endlich auf dem Asphalt, schwenkte sie rechts in sein Revier hinein, das allerdings mit der Breite eines Fußballplatzes kaum Kollisionsrisiken barg. "Sie rollen sich erst warm?" Als er nahe vor ihr auf seinem Brett stehend, die Hände im Gürtel, in vollkommener Ruhe einen vollkommenen Kreis vollendete, bekam sie wieder Respekt. Das war Lässigkeit in aller Tiefe. Er meditiert, ein buddhistischer Skater, 'karma skating'! Deshalb die unchristliche Zeit. Er ist in Zwiesprache mit dem Zentrum aller Kreise! "Ist das Kunst oder kann das weg?" Sie warf einen etwas verärgerten Seitenblick auf den Störer ihres transzendenten Trabtraumes. "Kreis kann jeder", konterte sie innerlich, bevor sie zum zweiten Mal an diesem Morgen auf dem letzten Zentimeter stoppen konnte. "Das geht ja wohl gar nicht!" Sie stand vor einer Ansammlung Kleider, die mitten auf der Landebahn ausgebreitet lagen. "Werfen die jetzt schon ihren Abfall auf unser Feld?" Herumstehen geht gar nicht für Jogger im Wind. Sie trabte also weiter, war aber von dem unerhörten Fund so gefesselt, daß sie erst einmal in eine Umlaufbahn einschwenkte, um die Sache zu besehen.
"Kumma, Knut, Kralle, da iss ne Tanzgruppe uffem Feld" Der erster Hunde-Laufenlasser des Morgens radelte mit maximiertem Blechklappern auf das System der zwei kreisenden Planeten zu und staunte. Seine beiden losgelassenen Zimmerspielzeughunde spielten noch ihr eigenes Spiel und wilderten im Galopp auf der Lerchenfläche. "Die mach'n Ausziehspielchen, det wird scharf" Auch Herrchen schwenkte jetzt in eine Umlaufbahn ein, da er für das Anhalten und Absteigen noch nicht stark genug war am Morgen.
Der Skater auf seinem ewig rollenden Brett machte seine erste Körperbewegung seit Minuten. Er hob die Hand und zeigte in das magische Zentrum dieses zyklischen Weltensystems: "Das ist ein Kunstwerk." - "Das ist doch nur Altkleidung." Die Joggerin machte natürlich ständig Bewegungen, aber immer dieselben und im Gleichmaß, Jogger-Gesetz. Selbst Sprechen war beim Sport-Sabbat verboten, aber hier galt eine Notfallregel. "Altkleiderbeuten, durchwühlt und aussortiert. Der Rest für uns liegengelassen." - "Glaub' ich nicht. Das ist ordentlicher als eine Schaufensterdekoration."
In diesem Augenblick rasten die Freiläufer wie Kamikaze-Kometen auf das Zentrum des Interesses zu. Die Joggerin war auf solche Will-Nur-Spielen-Attacken professionell vorbereitet. Ein Griff zum Sport-Smarty, zwei Wischbewegungen, ein Daumendruck. Die beiden kniehohen Hunde mit reichlich Migrationshintergrund stoppten abrupt, verdrehten die Köpfe und wichen heulend zurück. Der Skater griff sich an seine noch jungen Ohren und machte sich innerlich Notizen zu dieser überzeugenden Dog-Blocker-App. Die Joggerin blieb sachbezogen. "Das stimmt. Keiner legt Kleiderreste so symmetrisch aus. Das sieht aus wie ein Ausschneidebogen für eine Kleiderpuppe." - "Vor allem sind das keine Altkl~"
An dieser Stelle begann ein Schwall von Verwünschungen, die aus Gründen des Jugendschutzes bzw. durch Begrenzungen der Schriftsprache hier nicht wiedergegeben werden können. Das Herrchen auf dem Blechrad hatte mit erheblicher Verzögerung begriffen, daß seine Spielhunde in elementaren Freiheitsrechten beschnitten worden waren. Die beiden kreisenden Sportler unterbrachen ihre Unterhaltung und bestaunten die enorme Energie, mit der diese schwankende Gestalt ein pausenloses Blechgewitter in die Weite des Feldes entließ. Anfangs waren noch Fluch- und Beleidigungsphrasen zu erkennen, die aber bald einer epileptischen Entleerung des Empörungslexikons wich. Welch eine Stimmkraft, welch eine Atemtechnik, und der Mann fuhr dabei auch noch einige rhetorische Schleifen mit seinem Rad. Die Empörung schleuderte ihn aus dem Planetensystem. Mit seinen brav hinterher trabenden Kometen zog er die Landebahn entlang fort, war aber noch nach vielen Minuten hörbar. Hundeohren sind offensichtlich sehr selektiv.
Die Joggerin hatte ihr Mobilgerät gleich in der Hand behalten, um aus dem Lauf heraus Fotos zu schießen. Der Skater investierte in ein paar Beschleunigungstritte und konnte dann in aller Ruhe ein Video drehen, im Faßbinder'schen Umkreisungsstil. "Also, das sind keine Altkleider, sondern richtig teure Klamotten." - "Vor allem, es fehlt nichts. Das ist eine vollständige Einkleidung." - "Von der Socke bis zum Schlips." - "Ein Geschäftsanzug, grau, aber sauber." - "Und geputzte Schuhe" - "Aber nicht neu, die Sohlen sind zerkratzt. Angekratzt." - "Das Jackett ist etwas zerknüllt." - "Es hat eine Beule"
"Ein ausgebeultes Jackett?" Der vollschlanke Feldsheriff hatte in aller Stille hinter ihnen geparkt. Auf wildernde Hunde wurde nicht geachtet, Grillsünder erst ab Nachmittag belehrt, aber seltsame Aktivitäten von mehr als zwei Personen galten traditionell als politisch verdächtig. Gut, eine Person brüllt im Hintergrund über das Feld, hatte freilaufende Hunde und war damit unverdächtig. Aber das hier vor ihm war der Hinweis auf eine dritte Person. Er blieb unbeirrt wachsam und schritt breitbeinig durch die sportlich Kreisenden auf das Kleiderarrangement zu. Ein Müllhaufen wäre unverdächtig, das hier sah aber anders aus. "Sehr verdächtig!" Er zog einen Kugelschreiber aus der Tasche und schlug damit den Stoff des Jacketts um. Wozu gibt es TV-Serien! Er trat bedächtig zurück, um den Sportlern einen freien Blick auf den Griff der Waffe zu ermöglichen, der nun in der Morgensonne glänzte.
Dann zog er im Bewußtsein seiner Professionalität das Telefon aus der Tasche und wählte die eine Vorzugsnummer, die er hier auf dem Feld so selten in Gebrauch hatte. Die Joggerin fotografierte, der Skater filmte, und er gab seine Meldung ins Telefon.
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