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  BuchBaum 00000 / Ast 1.2.1 vom 11062015

Lothar Köster   [i]
Kommissar Oster in der Feldforschung


"Eine Spielzeugknarre, unanstößige Kleidung, was wollen wir hier?" - "Eben warst Du noch Feuer und Flamme, Maria. Ist es Dir nicht bizarr genug?" - "Waffe, Munition, Mordkommission. Jetzt sieht es doch eher wie ein Studentenspaß mit Internet-Video aus." - "Kein organisiertes Verbrechen, nur ordentliche Kleidung? Maria, willst Du wirklich zurück zu den Hinterhofstechereien?"

Sie umkreiste noch ein paar Mal schweigend das Mahnmal, ehe sie ihn wieder anschaute. "OK. Aber ich will von diesem schludrigen Feld herunter." Sie rollte akribisch die ganze Kleidung, die sich als stabil zusammengenäht erwies, in ein tragbares Bündel und strebte Richtung Ausgang. Karl war sich nicht so sicher, wie er behauptet hatte. Ohne die Spur einer Straftat konnte er diesen Fall nicht halten. Er mußte mehr finden. "Behalte das Feld im Auge" hatte sie ihm noch nachgerufen. Warum nicht. Am Eingang gab es eine kleine Bude mit Getränken und Sitzgelegenheiten. Er setzte sich und schaltete in den Himalaya-Modus. Kein weites Tal, in dem sie fünf Stunden auf den Aufstieg der Geier gewartet hatten. Aber ein perfekter Ort für Recherchen, hier mußte der Begriff 'Feldforschung' erfunden worden sein. "Sprich zu mir, Feld!" Es war viel los, die Menschen strömten hin und her, auf allen Arten von Rädern oder Turnschuhen. Sehr wenige gingen zu Fuß, wozu man hier richtig Zeit mitbringen mußte. Aber sie hatten alle ein Ziel. Die Schnellen und Zähen zogen die große Bahn um das Feld, andere woben einen Transit der Lust in dem Arbeitsweg oder strebten zu den Hochgärten. Speziell waren die Hundehalter, welche die Wege zu den Auslaufgehegen demonstrativ und mit riesigen Leinenlängen ausweiteten. Aber nach einer halben Stunde Schauen war er mit all diesen Bewegungen vertraut. Und niemand machte sich das geringste aus dem Ort, an dem sie vorhin noch auffällig recherchiert hatten. Eine Busladung asiatischer Berlintouristen strömte durch das Tor und versperrte ihm die Sicht, indem sie aufgeregt mit Stadtplänen in der Hand hin- und herliefen und dabei ständig auf den Horizont zeigten. Seit das Feld in den Reiseführern erwähnt wurde, war es Pflicht-Erholung nach drei harten Museumstagen. Als dann aber ein Kommando ertönte und ein Wimpel hochgehoben wurde, setzte sich diese Gruppe in einer streng einheitlichen Formation in Bewegung und strebte in Richtung Hochgärten. Eine Europa-Fernreise in zwölf Tagen schulte vermutlich in preußischer Disziplin. Allerdings war diese Bewegung sehr sprunghaft erfolgt, und einige eingestreute Individuen wurden schlichtweg zurückgelassen. Sie schauten sich alle spontan an, zuckten die Schultern über diese amüsante Begebenheit und strebten in diverse Richtungen auseinander.

"Ein Feld voller Erlebnisse!" Karl wollte gerade den Kitsch zum Abschluß bringen, als er eine grobe Unstimmigkeit erinnerte. Spontan anschauen und lächeln? Angemessen! Dann die eigenen Wege gehen? Normal! Warum also hatten sie sich alle gegenseitig mit kleinen Fingergesten ihre zukünftige Richtung angezeigt? Das machen nur Vertraute. Eine Touristen-Gruppe aber hätte sich an der Stelle erst einmal arglos und laut abgesprochen. Warum standen diese sieben Personen inmitten einer fremden Reisegruppe und lösten sich dann schnell von einander, ohne mit einander zu sprechen? Da sie sich ruhig und unauffällig bewegten, waren sie leicht zu verfolgen. Das machte hier nämlich niemand. Karl war interessiert. Er gab seinen Sitzplatz auf und schlenderte in Richtung Landebahn. Fotografen fingen zum hunderttausensten Mal die Kitersegel auf der Landebahn ein. Kinder jagten zum hunderttausensten Mal die Tauben vor sich her. Radler, Inliner und Jogger machten ihre Bewegungen. Hundehalter, Flaschensammler und Skateboard-Anfänger machten ihre Bewegungen. Man sah alle, und man sah zu jedem eine passende Bewegung. Das offene Feld legte alles offen. Die achte Person entdeckte er erst spät. Ein hip-studentisch eingekleideter Dreißiger. Er hielt sich zwar keinen Finger ans Ohr, stand aber mit dem Rücken zum nahen Tor und betrachtete das Feld wie die Monitore eines Kontrollraumes. Die anderen sieben, in eben derselben Stilisierung, spazierten mit derselben Konzentration sternförmig auseinander. Nach und nach schlugen sie einen sanften Boten ein. Und siehe da, letztlich strebten sie alle zu der Stelle, die Maria vorhin so akribisch analysiert hatte. Keine Absperrung, keine Markierung, nur er kannte diese Stelle noch. Und offensichtlich acht sehr Unauffällige.

Was tun? Er brauchte selbst eine unauffällige Erscheinung, denn er wollt ihr Treiben aus der Nähe beobachten. Also tat er es wie alle und rannte mit dem Smartphone in der Hand auf der Landebahn hin und her. Warum denn nicht, er imitierte eine Videoaufzeichung und interessierte sich für die hübsche, hunderttausend Mal gefilmte Flucht der Kitersegel. Der Punkt X lag einen guten Kilometer entfernt. Er strebte hier- und dahin und zeigte die notwendige Begeisterung. Aus der Entfernung waren die Personen nur Punkte, er mußte erst einmal rasch hinterher kommen. Aber da sie so betont uninteressiert schlenderten, konnte er sie im Gewühl immer sicher wiederfinden und rasch einholen. Allein und unbewaffnet hinter sieben Verdächtigen herrennen? Er zauderte kurz, aber als er sich umsah, war ihm schnell klar, wie viele Personen ihn hier bewachten und beschützten. Na ja, zur Not wenigstens filmten.

Was war eigentlich ihr Plan? Suchten sie etwas, das er und Maria eben übersehen hatten? Sie konnten ja kaum hoffen, dort im sportlichen Strömen von Rädern und Schuhen die Kleider unversehrt vorzufinden? Langsam verengte sich ihr Kreis. Sie bummelten zielstrebig und schauten sich nicht um. Bald wären sie auf Rufweite. Er machte noch einen strategischen Schwenk zur falschen Landebahnseite und schaltete nun tatsächlich seine Videoaufzeichnung ein. Schauspielen und herumschwenken, ja, aber zwischendurch auch mal ruhig halten, sonst war das nicht auswertbar. Was für ein Gerenne und Gerolle, die Sonne hatte wieder einmal alle herausgelockt.

Es tat sich etwas. Sie taten etwas. Er erkannte die synchrone Veränderung sofort, also hatten sie wohl Funkkontakt. Links von ihm bildete sich eine Dreier-Gruppe, und während sie wie eine Messedelegation auf die Stelle X zuschritten, fingerte jeder von ihnen in seinen Jackentaschen herum. Die anderen drei irrten unbeteiligt herum. Der siebente aber setzte sich seitlich ins Gras, ziemlich genau dorthin, wo vorhin noch der Kollege sein Tütchen geraucht hatte, und tat nichts.

Es war wohl angemessen, sich diesem Vorgang zu nähern. Karl spielte mit seinem Smartphone und der Sonnenblendung herum und näherte sich dabei seitlich, um den Überblick zu behalten. Aber er wollte auch dicht heran. Sie noch zehn Meter, er zwanzig. Sie noch vier, er vielleicht das Dreifache. Und dann schritten sie einfach über die Stelle hinweg! Kein Interesse. Kein Umsehen, kein auf den Boden starren. War das alles Humbug und Einbildung. Er schwenkte zur Tarnung etwas herum, und als er wieder hinsah, waren sie allemal über die Stelle hinweggeschritten. Aber sie hatten nun die Hände aus den Taschen genommen! Er schwenkte etwas willkürlich herum und kam endlich auch an den Ort, den er sich vorhin anhand der Aspaltnarben gemerkt hatte. Hatten sie den genauen Ort doch nicht gewußt? Suchten sie ihn noch? Sein Blick schweifte herum und blieb letztlich an dem im Gras sitzenden hängen. Der aber starrte nicht sosehr ihn, als vielmehr seine Bein an. Mit einem Blick auf sein Smartphone legitimierte er einen Blick zum Boden und sah aus den Augenwinkeln heraus noch etwas helles, auf das er wohl getreten war. Da der Sitzende ihn nun direkt anstarrte, blieb Karl nur noch eine Möglichkeit. Er lächelte zurück, hob das Smartphone und fotografierte den Mann, touristische Begeisterung vortäuschend. Der blickte im Reflex fort, besann sich dann aber und lächelte zurück.

Jetzt war ein längerer Aufenthalt in der Nähe kaum noch zu tarnen. Sollte er abrücken? Sollte er einfach die Personalien aufnehmen? Die viel geschicktere Alternative ergab sich dann ganz zufällig. Ein asiatisches Pärchen in etwas unbeholfen gewählter Freizeitkleidung versuchte sich mit einem Paar-Selfie, und er bot sich sogleich als Fotograf an. Das gab erst einmal genügend Situationskommunikation, denn er dirigierte die Beiden geschickt in die richtige Richtung, die er ohnehin observieren wollte. Noch das eine oder andere Sicherheitsfoto, und dann konnte er sie in aller Ruhe und schwachem Englisch nach Herkunft und Erfahrung befragen. Da sie sich zudem sehr nahe der fraglichen Stelle befanden, fiel irgendwann sein Blick auf den Boden. Dort lag, sorgfältig ausgebreitet, ein weißes Taschentuch.

Holzwege des Geistes. Er hatte bis eben geglaubt, sie würden nach den Kleidern suchen. Sie suchte aber jemanden, der sie suchte. Er vertiefte sie in immer neue Fragen und versuchte, dabei selbst unauffällig zu bleiben. Maria hatte erst vor kurzer Zeit die Kleider weggeräumt, und das schienen sie nicht beobachtet zu haben. Oder war das einkalkuliert? Suchten sie jemanden anderes? Dann sollte er es besser auch tun.