LESEPROBE
Vorspiel im Jenseits:
Die Idee, von Essen nach Anklam zu laufen, fiel uns im Mai 2010
auf einer Wanderung im Berliner Umland jäh vom Himmel in Hirn und Herz.
In der folgenden Nacht träumte mir dieses:
DDR-Zeiten.
Ich bin auf einem Kreuzfahrtschiff und die Reise soll
gerade beginnen, da treffen als Letzte und für alle völlig überraschend
Walter und Lotte Ulbricht ein. Beide sind quietschvergnügt.
Sie fragen, ob Plätze frei sind - es gibt genau noch zwei.
Walter ist ein kleines Männchen und sitzt im Rollstuhl, er hat
nur noch ein Bein. Beide kommen an Bord. Eine Stewardess am Eingang
prüft, ob es auch Essensportionen für die zusätzlichen Gäste gibt.
(Es herrscht eine typische DDR-Atmosphäre, alles ist genau
zu- und eingeteilt.) Sie rechnet nach und sagt laut:
"Es ist gerade noch Essen für drei Füße da."
Walter juchzt laut und haut sich vor Vergnügen auf seinen einen Schenkel.
Alle gehen ins Schiff hinein, Walter und Lotte und auch
all meine Freunde und Verwandte. Die allerdings verdrücken
sich. Ich bin mit Lotte alleine und fühle mich verpflichtet,
bei ihr zu bleiben, obwohl ich keine Lust dazu habe.
Lotte redet wie ein Wasserfall. Äußerlich ist sie eine
Mischung aus Queen und prolliger Neuköllnerin.
Präsent-20-Stoffe maßgeschneidert, so was. Ich bin hin-
und hergerissen zwischen Langeweile und Mitgefühl.
Sie jammert über ihre Einsamkeit. Ich sage zu ihr:
"Das sind eben die beiden Seiten, Sie schotten sich selbst
ab und deshalb denken alle, Sie wollten nichts mit ihnen zu tun haben."
Lotte ist in Wirklichkeit nur eine einfache alte Frau.
Sie beginnt jetzt, mir einen schweinischen Alte-Leute-Witz zu erzählen.
Ich verstehe ihn zwar nicht, aber sie ist nach dem
Gejammer vorher nun wieder mopsfidel. Wir schauen hinaus,
ich will lieber die Umgebung sehen, als mich mit
Lotte zu beschäftigen. Wir sind in einem engen Kanal.
Auf dem Wasser schwimmen eine Menge Gänse, die mich
interessieren. Ich weise Lotte darauf hin - sie quasselt
unaufhörlich weiter, sichtlich froh, jemanden gefunden
zu haben, der ihr sein Ohr leiht. Dann weitet sich die
Landschaft. Wir schauen auf qualmende Schornsteine,
auf eine Art Leuna-Kulisse. Meine Freunde und Verwandten
kommen endlich wieder. Rocco (einer unserer Freunde aus dem Ruhrpott)
sagt locker und flapsig zu Lotte: "Na, dafür müssen wir euch ja
jetzt noch dankbar sein, dass ihr Kohle aus Köln verfeuert habt,
da habt ihr schon damals was für die Wiedervereinigung getan."
Ich erschrecke, weil mir das eine Spur zu frech vorkommt und ich
nicht weiß, wie Ulbrichts diese Art von kumpelhaftem Schulterklopfen
aufnehmen werden. Aber sie lachen, sind entspannt und genießen
unsere Gesellschaft. Ich dehne mich und bin glücklich.
Was
sind das für schlappe, lächerliche Gestalten, die in meinem
Traum Vater- und Mutter-Staat verkörpern? Mehr also ist nicht
übrig von denen, die maßgeblich das System formten, das mich
hinter Gitter gebracht hat, nur weil ich ihm entkommen wollte?
Dieses mickrige Männchen hat einmal Furcht und Schrecken
verbreitet? Warum nehme ich die beiden mit "an Bord", mit auf meine Reise?
Walter und Lotte Ulbricht gehören wohl oder übel zu meinem
Leben, wie Verwandte, die ich mir nicht ausgesucht habe.
In ihren Machtbereich hinein bin ich geboren worden. Die ersten
Jahre nach der Wende waren sie mir peinlich - als herauskam, wie
beschränkt, kleinbürgerlich und machtgierig sie waren.
Ich habe mich dafür geschämt, dass sie mich in ihrer Gewalt hatten
und mir Angst gemacht haben. Heute ist der Kaiser nackt,
ein Bild zum Lachen, auch zum Erbarmen. Leid ist dem Mitleid gewichen -
welch eine merkwürdige Wendung der Geschichte! Lieber Rocco,
hast du für die beiden nicht vielleicht noch ein paar kleine Frechheiten auf Lager?
Vorspiel im Diesseits:
Wer
sich über eine unbekannte Strecke informieren möchte, verschafft
sich heute gemeinhin erst einmal bei google maps einen Überblick.
Dankenswerterweise gibt es die Option, sich auch als Fußgänger
eine Route vorschlagen zu lassen. Flugs getan ist halb gewonnen:
Start Essen - Ziel Anklam, noch ein paar Zwischenstationen auf
einer halbwegs akzeptablen Linie eingegeben (Warburg, Hofgeismar,
Ilsenburg, Haldensleben, Wittstock, Neubrandenburg) - und das Ergebnis
staunend zur Kenntnis genommen:
"Der Routenplaner für Fußgänger ist noch im Beta-Stadium.
Seien Sie vorsichtig! - Auf dieser Route gibt es möglicherweise keine Bürgersteige oder Fußwege.
683 km, 5 Tage, 20 Stunden".
Na, denn man tau! Kann so schlimm nicht sein.
Wagen wir uns also an das Abenteuer ohne Bürgersteige.
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