BUCHPRÄSENTATION

Volker Keßling

Abrechnung - eine Deutschstunde

Erzählung, 248 Seiten

24. 11. 2011 VVPN 00001021  

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Autor-Info:

Volker Keßling, Neubrandenburg

 

Zusammenfassung

Leseprobe

ZUM INHALT

A., Schriftsteller in der DDR, verliert seine linientreuen Worte, als er beginnt, über Sprache nach zu denken. Es entstehen dissidierende Texte. Von Kollegen, die sich hinter IM-Tarnnamen versteckten, wird er verraten. Ihm werden im Zuchthaus alle eigenen Worte ausgetrieben.

Mit der Wende beginnt er seine befreiten Worte wieder zu finden. Er entflieht dem autistischen Gefängnis verstummter Sprache. In einem Stasi-Archiv sucht er nach Texten und Briefen und vergleicht die kanonisierte Sprache der Partei mit lebendigem Wort. Er erkennt seine vertrauten Verräter, die immer bereit waren, alte braune wie angeordnete rote Texte zu vergessen und neue Lieder zu singen. Er bleibt auf dem Weg.

Die Geschichten, die dieses Buch erzählt, haben Menschen, die sie erleben mußten, nie wieder losgelassen.
Wer das Räderwerk der DDR verstehen will, bekommt hier eine unmittelbare Anschauung vom Leben zwischen den Zahnrädern autoritärer Macht, von der Wirkung und Wandlung der Worte.
Dem Autor gelingt ein Röntgenbild der Epoche. Nachgeborenen, die zu Recht Fragen stellen, sollte man wünschen, dass sie in diese spannende Schicksalsgeschichte eintauchen.

LESEPROBE

Im Büro

Er, also ein Mann, ist groß, kräftig sogar, Zehnkämpferfigur. An dem kleinen Tischchen vor meinem Schreibtisch sitzt er mir gegenüber. Das quadratische Tischchen ist geradezu lächerlich klein für solch einen großen Mann. In den Händen windet er eine helle etwas knittrige Plastiktüte, klemmt sie einmal neben sich auf den Stuhl, legt sie wenig später auf beide Schenkel, dann auf den Tisch und reibt sich die schwitzende linke Hand an der Hose trocken.

Er sagt, er habe Papiere in dem Beutel, Anträge, Texte, auch der Text über einen Mord im Archiv, später.

Wenn er die Tüte vor sich auf den Tisch legt, behält er eine Hand darauf.

Papiere, Anträge sind es in der Tüte, erklärt er noch einmal, während er mit der linken Hand über den Plastikbeutel streicht.

Sind auch Anträge dabei, sagt er dann, aber er versteht die Sprache nicht, die Fragen. Lauter Fragebogen ohne die bekomme ich nichts, sagt er. Ich kann die Zettel nicht ausfüllen, weil ich, ah, ich saß Jahre in Stasihaft, wissen sie. Hier die rechte Hand wurde mir zertrümmert, zerquetscht in der schmalen Tür, weil ich nicht schnell genug in der Bucht war und wegen meiner Worte.

Das war am Anfang meiner Haft, im Gefängniswagen, im Zug, da sind so schmale Buchten, immer eine für einen Gefangenen. Wir nannten den Zug Ulbrichtexpress, später, als wir irgendwo angekommen und in Zellen getrieben worden waren erst, redeten wir sowas. Worte unter uns. Aber bald wussten wir, auch unter den Politischen sind wir nicht unter uns, sind immer welche dazu gesteckt, die Worte heraustragen aus der Zelle.

Ich konnte Zuträger an ihrer Sprache erkennen, ob sie Spitzel waren oder so. Sprachen erkennen und Sätze merken, Sätze umbauen wie mit Bauklötzchen sowas, das spielten wir bei uns zuhause als Kinder, ein Kinderspiel. Damals, in den Fünfzigern, ist mein Vater wegen seiner Aufzeichnungen, Worte und so...

Aber das ist eine andere Geschichte.

Sicher lächerlich, was ich rede, verstehen Sie mich? Ich meine mit irgendwo, wir Verurteilten wussten nicht, wohin wir gefahren wurden, ging ja quer durch das ganze Land. Jetzt soll ich das alles aufschreiben, kann das aber nicht, kann das alles nicht noch einmal. Wissen Sie, Worte machen mir Bilder in der Nacht, manchmal auch am Tag oder wenn ich etwas sehe, was mich erinnert, kann das nicht ertragen. Vielleicht schaffe ich es auch nicht mehr zurück und dann muss ich ein Ende machen, weil ich das nicht mehr hin bekomme ...

Wird besser sein, sagt er nach einer Pause, während er seine Plastiktüte vor sich legt, erst glatt streicht und dann seine schwitzige Hand wieder an der Hose reibt.

Mein Moped steht bei der Kirche. Wenn ich zurück fahre zum Dorf begegnen mir die alle mit ihren dicken Autos. Ist dann ja nur ein Schritt zur Ruhe, nur ein Schritt, hätte ich endlich Ruhe, wäre endlich daheim. Aber das schaffe ich dann auch nicht.

Die begegnen mir alle immer wieder, wissen Sie, begegnen mir immer wieder. Die sitzen in den Büros, waren früher in der Partei oder sogar bei der Firma, Armee und so. Die sitzen jetzt da und ich soll ihnen alles erklären, Anträge ausfüllen. Ist schon schwer bloß in das Haus hier zu gehen, in dem Sie ja auch heute sitzen.

Wer wird an diesem Tisch gesessen haben? Hier war doch die SED-Führung. Hier zwischen den Wänden lebte die alte Sprache. Ich höre Geräusche im Ohr. Sicher Wanzen überall.

Wenn ich geklaut hätte oder sowas, wäre das gut. Na gut auch nicht aber das wär dann so.

Nur, wir waren ja Politische. Da ging es nur um Texte, Worte, kleine Verse. Ging um nichts anderes als Texte, hingeschriebenes bloß.

Und wir mussten unterschreiben, sagt er nach kurzem Zögern, während er die Plastiktüte wieder ergreift und hin und her wendet, mussten unterschreiben mit keinen Menschen über die Zeit zu reden. Über die Haft meine ich, nicht zuhause und egal wo.

Weiß nicht, ob das heute noch gilt? Sicher gilt es noch, wenn die noch immer in Büros sitzen.

Ich war eben bei der Aussiedlerbehörde, weil wir alle mit der Familie ja aus der Tschechei vertrieben worden waren, damals 45. Geht um Entschädigung. Alle Orte sind aufzuführen, wo wir gewohnt haben, vor und nach dem Krieg. Das kann ich aber nicht, weil ich den Mann in dem Büro kenne, zufällig. Der war ziemlich hoher Offizier bei der Armee, kam mit seinem Wartburg zu uns in die Werkstatt, ja, kam in die Werkstatt.

Ich war Autoschlosser damals, wissen Sie und der kam dann an mit ner Flasche oder einem Schein, weil, es gab ja wenig Ersatzteile und du konntest was verdienen.

Dem soll ich jetzt alles erklären, wissen Sie. Das kann ich nicht. Der hat so getan, als würde er mich nicht kennen, hat mich dann in ein anderes Büro geschickt, zum „Psychiatrischen Dienst“ stand auf dem Schildchen neben der Tür.

In den Zellenhäusern stand nichts neben den Türen und an den Türen nur Zahlen. Die Zahlen sahen so aus wie manchmal in alten Büchern, fast gemalt die Zahlen. Die müssen schon sehr lange an den Zellentüren stehen.

Wir sind zuhause alle katholisch, wissen Sie, und auf der Flucht hatten wir ein Buch mit, eine Bibel, da sah ich auch solche Zahlen. Meine Mutter sagte immer den Spruch von Jakobus aus dem Buch: Jeder Mensch ist Täter des Wortes, nicht Hörer allein.

Was sie damit meint, wusste ich damals nicht? Wir im Gefängnis hatten nicht viele Worte. Am besten kamst du ohne eigene Worte. Brauchten nicht zu wissen, vor welcher Tür wir standen, wurden kommandiert als Nummer, mussten stehn und gehn auf Befehl und Nummern, Nummern lesen ja keine Türschilder.

Der Doktor, sogar „Medizinalrat“ stand an der Tür, vom psychiatrischen Dienst, der in dem Büro wird in meinem Alter sein, habe ich sofort gerechnet. Sowas rechne ich immer schnell, wenn einer mit mir reden will. Der war dann mindestens drei Jahre bei der Armee, vielleicht sogar Genosse, sonst wäre er nicht zum Medizinstudium gekommen und zu so Titeln. Mit dem kann ich nicht über Sachen reden von damals. Der lebte in mir fremden, meine so ganz anderen Wörtern.

Können Sie wissen, ob es mal wieder anders kommt, sagt er und steckt die Plastiktüte in seine halb offene Windjacke.

Über die Haft zu reden war mir ja verboten worden, schriftlich.

Das gilt für die Ewigkeit, hörn Sie, sagten die Wachleute bei der Entlassung. Kein Wort, sonst bist du wieder hier! Verstanden? Die Wachposten sagten „Sie“ zum ersten Male nach Jahren „Sie“ nicht du oder die Nummer. Die gaben mir das Sie wieder zur Entlassung, merkte ich und erschrak darüber, dass ich plötzlich ein Gefühl der Dankbarkeit verspürte, dankbar dafür war, wegen dem Sie.

Die sind alle noch da und wenn es mal anders kommt ...

In der Angelegenheit müssen Sie heute wirklich keine Sorgen mehr haben. Ihre Bewacher sind heute Hilfsarbeiter und haben nichts mehr zu melden. Heute können Sie mit jedem reden, wie mit mir.

Nein, nein! Wo die alles sitzen? Ich muss den doch kennen, wenn ich Worte an ihn wende, muss ihn sehen. Einmal habe ich geredet und auch geschrieben, ah, schreiben, Literatur machen wollen, war vielleicht falsch damals. Es war aber, was alle wussten. Worüber die alle Gedanken hatten, schrieb ich auf, schrieb ich auf.

Das hat mich kaputt gemacht, wissen Sie.

Augen, die verraten mir heute, was im Kopf des anderen mit dem Wort geschieht.

Mit Ihnen kann ich sprechen, Ihre Augen sehe ich und Ihren Namen kannte ich schon lange, kenne ich schon lange. Ich habe hier in der Nähe in einem kirchlichen Heim gearbeitet, nach der Haft. Mein Bruder ist dort, weil er behindert ist. Von daher kannte ich ihren Namen. Sie haben doch auch mit Behinderten so, ähm, gearbeitet, nicht politisch und sind jetzt in dem Büro, da kann ich vielleicht reden zu einem, der nicht so politisch war und Behinderte interessierte die Partei ja nicht.

Es ist heute eine andere Zeit. Haben Sie nur Vertrauen zu den Mitmenschen.

Ha, ach Gott. Vertrauen, wiederholt er und lacht kurz auf, Vertrauen? Das wird mir nie mehr möglich sein. Kann nur versuchen zwischen den Menschen zu gehen wie ein Skifahren zwischen Torstangen.

Ich seh das doch. Die sitzen auch heute wieder überall, sitzen überall.

Bei uns fährt einer mit son Wachschutzauto umher, son Auto, trägt eine Pistole vor seinem fetten Bauch, sammelt Geld ein. Die können sich ja nicht alle in Luft aufgelöst haben.

Oh ja, die sind noch da, die warten bloß ab, glaube ich. Eine Pistole, wissen Sie, kann losgehen. Das heißt dann: Auf der Flucht erschossen. In meiner Stasiakte sind Felder vorgesehen für den Eintrag. Zutreffendes ankreuzen: Schussspur, weist du. Winzige kleine Kästchen unten auf einer Seite, Schussspur, Bisspur, Geruchskonserve, sowas. Auch der alte mit den gelben Fingern hat auf mich gewartet, war Offizier von Anfang an, hat er erzählt.

Aber der saß dann tot im Sessel, warn Mord im Archiv vielleicht. Gesehen hab ich ihn, hab ich ihn, wie er so da saß, tot, mit dem spitzen Ding mitten durch die Brust, mitten durch.

Wie? Sie haben einen ermordet gesehen, sagten Sie eben?

Na, ja, da liegen doch meine gesprochenen und geschriebenen Worte im Archiv verwahrt. Deshalb war ich eingesperrt. Direkt gesehen, so mit Worten, aber ja. Und es möcht schon richtig sein, wenn ich das, wenn ich das mit Worten denken kann. Weil die Worte dort gesammelt und dann auf dich geworfen wurden. Is bloß Notwehr so etwas, Notwehr.

Aber nein, nein. Sie können heute sicher sein. Auch wenn Sie in den Ämtern welche von früher erkennen, müssen schließlich auch irgendwo arbeiten. In wichtigen Ämtern finden Sie keinen.

Soll ich für Sie die Anträge vielleicht ausfüllen, biete ich ihm wieder an. Das ist schnell gemacht. Ich kann diese auch weiterleiten, haben Sie gar keine Mühe.

Sicher sein, sagen Sie? Waren Sie sicher, dass eine Wende, wie man so sagt, kommt? Sind Sie sicher, dass es so bleibt, wie es ist? Nein, nein ich muss das schon selber schreiben, ich war das doch, meine, ich habe das erlebt und jetzt muss ich meine Worte finden, verstehen Sie. Ich muss eigene Worte wieder finden und muss sie auszusprechen lernen, ohne Furcht, hören Sie. Der Mensch kann nicht leben, wenn ihm alle Worte gestohlen wurden und nun im Archiv liegen, na so verwahrt liegen.

Am Ende bleibt mir noch immer ein letzter Schritt. Den erlaubt mir der Herrgott.

Weiß noch nicht, ob ich das alles schaffe, ob ich das alles schaffe, sagt er, erhebt sich unvermittelt und wendet sich grußlos zur Tür.

Sie können jederzeit wieder zu mir ins Büro kommen, rufe ich ihm schnell nach.

Nachdem er gegangen war, wurde mir plötzlich übel. Ich hatte Sorge, weil er von einem Mord geredet hatte und so unvermittelt gegangen war. Von einem Mord aber hätte ich doch sicher gehört, heute steht ja alles in der Zeitung.

Aber dann ist er plötzlich gegangen.

War das seine Gewohnheit aus der Haft, ohne eigene Worte zu gehen, zu stehen auf Befehl. Ist das heute alles, was ihm an Freiheit geblieben ist, gehen zu können, wann immer er will? Angekündigt hat er in unserem Gespräch etwas von einem letzten Schritt. Er sah mich nicht an, als er davon sprach, sah schräg nach oben mit leicht gesenktem Kopf.

Später blickte ich ihm vom Fenster aus nach.

Wenn er tut, was gemeint sein kann, wäre unsere Ohnmacht vollendet. Die Geschichte wirft uns unsere Leichen vor die Füße, damit wir inne halten und uns erinnern.

Sind es ihre Toten, die unseren nicht? Er stand vor dem Bürohaus an der Kreuzung. Autos fuhren unmittelbar vor ihm in dichter Folge. Ein oder zwei Schritte. Ich wartete darauf.

Wollte ich ihn aus unseren neuen Bildern verschwinden sehen? Nein, nein! Dann aber? Er wird, wenn er es tut, das nicht öffentlich machen, wird es uns nicht leicht machen, wird fast unbemerkt aus dem Kreis der Menschen verschwinden, wie er damals fast unbemerkt verschwunden war, nach Bützow, nach Bautzen, und, und.

Haben wir nichts gemerkt, nichts gewusst als er verschwand? Es wurde damals geschwiegen. Erinnern wir uns wenigstens heute? Wer wird schreien seinetwegen? Aber jetzt stand er dort unten ganz ruhig mit all den Passanten, ging wie alle über die Straße und auf dem Boulevard zur Innenstadt.

An der Kirche habe er sein Moped stehen, hatte er erklärt. Ein Moped! Relikt aus einer anderen Zeit. Ein sehr großer Kerl, Autoschlosser und ein Moped! Das heute.

Seine Seele ist noch nicht angekommen. Wird er ankommen können, wenn wir verstehen?

 

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