LESEPROBE
Im Büro
Er, also ein Mann, ist
groß, kräftig sogar, Zehnkämpferfigur. An dem kleinen Tischchen
vor meinem Schreibtisch sitzt er mir gegenüber. Das quadratische
Tischchen ist geradezu lächerlich klein für solch einen großen
Mann. In den Händen windet er eine helle etwas knittrige
Plastiktüte, klemmt sie einmal neben sich auf den Stuhl, legt sie
wenig später auf beide Schenkel, dann auf den Tisch und reibt sich
die schwitzende linke Hand an der Hose trocken.
Er sagt, er habe Papiere in
dem Beutel, Anträge, Texte, auch der Text über einen Mord im
Archiv, später.
Wenn er die Tüte vor sich
auf den Tisch legt, behält er eine Hand darauf.
Papiere, Anträge sind es
in der Tüte, erklärt er noch einmal, während er mit der linken
Hand über den Plastikbeutel streicht.
Sind auch Anträge dabei,
sagt er dann, aber er versteht die Sprache nicht, die Fragen. Lauter
Fragebogen ohne die bekomme ich nichts, sagt er. Ich kann die Zettel
nicht ausfüllen, weil ich, ah, ich saß Jahre in Stasihaft, wissen
sie. Hier die rechte Hand wurde mir zertrümmert, zerquetscht in der
schmalen Tür, weil ich nicht schnell genug in der Bucht war und
wegen meiner Worte.
Das war am Anfang meiner
Haft, im Gefängniswagen, im Zug, da sind so schmale Buchten, immer
eine für einen Gefangenen. Wir nannten den Zug Ulbrichtexpress,
später, als wir irgendwo angekommen und in Zellen getrieben worden
waren erst, redeten wir sowas. Worte unter uns. Aber bald wussten
wir, auch unter den Politischen sind wir nicht unter uns, sind immer
welche dazu gesteckt, die Worte heraustragen aus der Zelle.
Ich
konnte Zuträger an ihrer Sprache erkennen, ob sie Spitzel waren oder
so. Sprachen erkennen und Sätze merken, Sätze umbauen wie mit
Bauklötzchen sowas, das spielten wir bei uns zuhause als Kinder, ein
Kinderspiel. Damals, in den Fünfzigern, ist mein Vater wegen seiner
Aufzeichnungen, Worte und so...
Aber das ist eine andere
Geschichte.
Sicher lächerlich, was ich
rede, verstehen Sie mich? Ich meine mit irgendwo, wir Verurteilten
wussten nicht, wohin wir gefahren wurden, ging ja quer durch das
ganze Land. Jetzt soll ich das alles aufschreiben, kann das aber
nicht, kann das alles nicht noch einmal. Wissen Sie, Worte machen mir
Bilder in der Nacht, manchmal auch am Tag oder wenn ich etwas sehe,
was mich erinnert, kann das nicht ertragen. Vielleicht schaffe ich es
auch nicht mehr zurück und dann muss ich ein Ende machen, weil ich
das nicht mehr hin bekomme ...
Wird besser sein, sagt er
nach einer Pause, während er seine Plastiktüte vor sich legt, erst
glatt streicht und dann seine schwitzige Hand wieder an der Hose
reibt.
Mein Moped steht bei der
Kirche. Wenn ich zurück fahre zum Dorf begegnen mir die alle mit
ihren dicken Autos. Ist dann ja nur ein Schritt zur Ruhe, nur ein
Schritt, hätte ich endlich Ruhe, wäre endlich daheim. Aber das
schaffe ich dann auch nicht.
Die begegnen mir alle immer
wieder, wissen Sie, begegnen mir immer wieder. Die sitzen in den
Büros, waren früher in der Partei oder sogar bei der Firma, Armee
und so. Die sitzen jetzt da und ich soll ihnen alles erklären,
Anträge ausfüllen. Ist schon schwer bloß in das Haus hier zu
gehen, in dem Sie ja auch heute sitzen.
Wer wird an diesem Tisch
gesessen haben? Hier war doch die SED-Führung. Hier zwischen den
Wänden lebte die alte Sprache. Ich höre Geräusche im Ohr. Sicher
Wanzen überall.
Wenn ich geklaut hätte
oder sowas, wäre das gut. Na gut auch nicht aber das wär dann so.
Nur, wir waren ja
Politische. Da ging es nur um Texte, Worte, kleine Verse. Ging um
nichts anderes als Texte, hingeschriebenes bloß.
Und wir mussten
unterschreiben, sagt er nach kurzem Zögern, während er die
Plastiktüte wieder ergreift und hin und her wendet, mussten
unterschreiben mit keinen Menschen über die Zeit zu reden. Über die
Haft meine ich, nicht zuhause und egal wo.
Weiß nicht, ob das heute
noch gilt? Sicher gilt es noch, wenn die noch immer in Büros sitzen.
Ich war eben bei der
Aussiedlerbehörde, weil wir alle mit der Familie ja aus der
Tschechei vertrieben worden waren, damals 45. Geht um Entschädigung.
Alle Orte sind aufzuführen, wo wir gewohnt haben, vor und nach dem
Krieg. Das kann ich aber nicht, weil ich den Mann in dem Büro kenne,
zufällig. Der war ziemlich hoher Offizier bei der Armee, kam mit
seinem Wartburg zu uns in die Werkstatt, ja, kam in die Werkstatt.
Ich war Autoschlosser
damals, wissen Sie und der kam dann an mit ner Flasche oder einem
Schein, weil, es gab ja wenig Ersatzteile und du konntest was
verdienen.
Dem soll ich jetzt alles
erklären, wissen Sie. Das kann ich nicht. Der hat so getan, als
würde er mich nicht kennen, hat mich dann in ein anderes Büro
geschickt, zum „Psychiatrischen Dienst“ stand auf dem Schildchen
neben der Tür.
In den Zellenhäusern stand
nichts neben den Türen und an den Türen nur Zahlen. Die Zahlen
sahen so aus wie manchmal in alten Büchern, fast gemalt die Zahlen.
Die müssen schon sehr lange an den Zellentüren stehen.
Wir
sind zuhause alle katholisch, wissen Sie, und auf der Flucht hatten
wir ein Buch mit, eine Bibel, da sah ich auch solche Zahlen. Meine
Mutter sagte immer den Spruch von Jakobus aus dem Buch: Jeder Mensch
ist Täter des Wortes, nicht
Hörer
allein.
Was sie damit meint, wusste
ich damals nicht? Wir im Gefängnis hatten nicht viele Worte. Am
besten kamst du ohne eigene Worte. Brauchten nicht zu wissen, vor
welcher Tür wir standen, wurden kommandiert als Nummer, mussten
stehn und gehn auf Befehl und Nummern, Nummern lesen ja keine
Türschilder.
Der Doktor, sogar
„Medizinalrat“ stand an der Tür, vom psychiatrischen Dienst, der
in dem Büro wird in meinem Alter sein, habe ich sofort gerechnet.
Sowas rechne ich immer schnell, wenn einer mit mir reden will. Der
war dann mindestens drei Jahre bei der Armee, vielleicht sogar
Genosse, sonst wäre er nicht zum Medizinstudium gekommen und zu so
Titeln. Mit dem kann ich nicht über Sachen reden von damals. Der
lebte in mir fremden, meine so ganz anderen Wörtern.
Können Sie wissen, ob es
mal wieder anders kommt, sagt er und steckt die Plastiktüte in seine
halb offene Windjacke.
Über die Haft zu reden war
mir ja verboten worden, schriftlich.
Das gilt für die Ewigkeit,
hörn Sie, sagten die Wachleute bei der Entlassung. Kein Wort, sonst
bist du wieder hier! Verstanden? Die Wachposten sagten „Sie“ zum
ersten Male nach Jahren „Sie“ nicht du oder die Nummer. Die gaben
mir das Sie wieder zur Entlassung, merkte ich und erschrak darüber,
dass ich plötzlich ein Gefühl der Dankbarkeit verspürte, dankbar
dafür war, wegen dem Sie.
Die sind alle noch da und
wenn es mal anders kommt ...
In der Angelegenheit müssen
Sie heute wirklich keine Sorgen mehr haben. Ihre Bewacher sind heute
Hilfsarbeiter und haben nichts mehr zu melden. Heute können Sie mit
jedem reden, wie mit mir.
Nein,
nein! Wo die alles sitzen? Ich muss den doch kennen, wenn ich Worte
an ihn wende, muss ihn sehen. Einmal habe ich geredet und auch
geschrieben, ah, schreiben, Literatur machen wollen, war vielleicht
falsch damals. Es war aber, was alle wussten. Worüber die alle
Gedanken hatten, schrieb ich auf, schrieb ich auf.
Das hat mich kaputt
gemacht, wissen Sie.
Augen, die verraten mir
heute, was im Kopf des anderen mit dem Wort geschieht.
Mit Ihnen kann ich
sprechen, Ihre Augen sehe ich und Ihren Namen kannte ich schon lange,
kenne ich schon lange. Ich habe hier in der Nähe in einem
kirchlichen Heim gearbeitet, nach der Haft. Mein Bruder ist dort,
weil er behindert ist. Von daher kannte ich ihren Namen. Sie haben
doch auch mit Behinderten so, ähm, gearbeitet, nicht politisch und
sind jetzt in dem Büro, da kann ich vielleicht reden zu einem, der
nicht so politisch war und Behinderte interessierte die Partei ja
nicht.
Es ist heute eine andere
Zeit. Haben Sie nur Vertrauen zu den Mitmenschen.
Ha, ach Gott. Vertrauen,
wiederholt er und lacht kurz auf, Vertrauen? Das wird mir nie mehr
möglich sein. Kann nur versuchen zwischen den Menschen zu gehen wie
ein Skifahren zwischen Torstangen.
Ich seh das doch. Die
sitzen auch heute wieder überall, sitzen überall.
Bei uns fährt einer mit
son Wachschutzauto umher, son Auto, trägt eine Pistole vor seinem
fetten Bauch, sammelt Geld ein. Die können sich ja nicht alle in
Luft aufgelöst haben.
Oh ja, die sind noch da,
die warten bloß ab, glaube ich. Eine Pistole, wissen Sie, kann
losgehen. Das heißt dann: Auf der Flucht erschossen. In meiner
Stasiakte sind Felder vorgesehen für den Eintrag. Zutreffendes
ankreuzen: Schussspur, weist du. Winzige kleine Kästchen unten auf
einer Seite, Schussspur, Bisspur, Geruchskonserve, sowas. Auch der
alte mit den gelben Fingern hat auf mich gewartet, war Offizier von
Anfang an, hat er erzählt.
Aber der saß dann tot im
Sessel, warn Mord im Archiv vielleicht. Gesehen hab ich ihn, hab ich
ihn, wie er so da saß, tot, mit dem spitzen Ding mitten durch die
Brust, mitten durch.
Wie? Sie haben einen
ermordet gesehen, sagten Sie eben?
Na, ja, da liegen doch
meine gesprochenen und geschriebenen Worte im Archiv verwahrt.
Deshalb war ich eingesperrt. Direkt gesehen, so mit Worten, aber ja.
Und es möcht schon richtig sein, wenn ich das, wenn ich das mit
Worten denken kann. Weil die Worte dort gesammelt und dann auf dich
geworfen wurden. Is bloß Notwehr so etwas, Notwehr.
Aber nein, nein. Sie können
heute sicher sein. Auch wenn Sie in den Ämtern welche von früher
erkennen, müssen schließlich auch irgendwo arbeiten. In wichtigen
Ämtern finden Sie keinen.
Soll ich für Sie die
Anträge vielleicht ausfüllen, biete ich ihm wieder an. Das ist
schnell gemacht. Ich kann diese auch weiterleiten, haben Sie gar
keine Mühe.
Sicher sein, sagen Sie?
Waren Sie sicher, dass eine Wende, wie man so sagt, kommt? Sind Sie
sicher, dass es so bleibt, wie es ist? Nein, nein ich muss das schon
selber schreiben, ich war das doch, meine, ich habe das erlebt und
jetzt muss ich meine Worte finden, verstehen Sie. Ich muss eigene
Worte wieder finden und muss sie auszusprechen lernen, ohne Furcht,
hören Sie. Der Mensch kann nicht leben, wenn ihm alle Worte
gestohlen wurden und nun im Archiv liegen, na so verwahrt liegen.
Am Ende bleibt mir noch
immer ein letzter Schritt. Den erlaubt mir der Herrgott.
Weiß noch nicht, ob ich
das alles schaffe, ob ich das alles schaffe, sagt er, erhebt sich
unvermittelt und wendet sich grußlos zur Tür.
Sie können jederzeit
wieder zu mir ins Büro kommen, rufe ich ihm schnell nach.
Nachdem er gegangen war,
wurde mir plötzlich übel. Ich hatte Sorge, weil er von einem Mord
geredet hatte und so unvermittelt gegangen war. Von einem Mord aber
hätte ich doch sicher gehört, heute steht ja alles in der Zeitung.
Aber dann ist er plötzlich
gegangen.
War das seine Gewohnheit
aus der Haft, ohne eigene Worte zu gehen, zu stehen auf Befehl. Ist
das heute alles, was ihm an Freiheit geblieben ist, gehen zu können,
wann immer er will? Angekündigt hat er in unserem Gespräch etwas
von einem letzten Schritt. Er sah mich nicht an, als er davon sprach,
sah schräg nach oben mit leicht gesenktem Kopf.
Später blickte ich ihm vom
Fenster aus nach.
Wenn er tut, was gemeint
sein kann, wäre unsere Ohnmacht vollendet. Die Geschichte wirft uns
unsere Leichen vor die Füße, damit wir inne halten und uns
erinnern.
Sind es ihre Toten, die
unseren nicht? Er stand vor dem Bürohaus an der Kreuzung. Autos
fuhren unmittelbar vor ihm in dichter Folge. Ein oder zwei Schritte.
Ich wartete darauf.
Wollte ich ihn aus unseren
neuen Bildern verschwinden sehen? Nein, nein! Dann aber? Er wird,
wenn er es tut, das nicht öffentlich machen, wird es uns nicht
leicht machen, wird fast unbemerkt aus dem Kreis der Menschen
verschwinden, wie er damals fast unbemerkt verschwunden war, nach
Bützow, nach Bautzen, und, und.
Haben wir nichts gemerkt,
nichts gewusst als er verschwand? Es wurde damals geschwiegen.
Erinnern wir uns wenigstens heute? Wer wird schreien seinetwegen?
Aber jetzt stand er dort unten ganz ruhig mit all den Passanten, ging
wie alle über die Straße und auf dem Boulevard zur Innenstadt.
An der Kirche habe er sein
Moped stehen, hatte er erklärt. Ein Moped! Relikt aus einer anderen
Zeit. Ein sehr großer Kerl, Autoschlosser und ein Moped! Das heute.
Seine Seele ist noch nicht
angekommen. Wird er ankommen können, wenn wir verstehen?
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