LESEPROBE
Am Eingang
Das Stolpern über die Türschwelle galt immer als
unglückliches Vorzeichen. Das Ins-Haus-hinein-Stolpern
wie das Aus-dem-Haus-hinaus-Stolpern ist ebensowenig gut wie
das In-eine-Sache-hinein-Stolpern. Jeder Mensch hat das
in der einen oder anderen Weise schon erfahren. Wir fühlen
uns nicht wohl, wenn wir gegen den eigenen Willen, gegen
das eigene Tempo oder unvorbereitet in eine andere, neue
Situation hineingeraten. Das Leben hält viele solcher
kleinen und auch großen Stolperschwellen bereit, die
richtig überschritten werden wollen.
Menschen haben schon immer die Erfahrung gemacht, dass der
Übergang in eine neue Situation eine heikle
Angelegenheit ist, die genauer Regelungen bedarf, damit
man eben nicht das unglückliche Gefühl hat,
gestolpert zu sein.
Das Symbol des Überschreitens
einer Schwelle steht in unserem Kulturkreis seit Jahrtausenden
für die Problematik zu Beginn eines neuen Lebensabschnitts.
Warum eine Schwelle? Menschen in Europa sind aufgrund der
klimatischen Bedingungen auf relativ stabile Häuser
angewiesen. Die Grundbalken eines Gebäudes heißen
eigentlich Schwellen. Sie geben Stabilität; an ihnen
werden die Wände verankert, so wie auf den Bahnschwellen
die Gleise verlegt werden. Im Alltagssprachgebrauch verstehen
wir unter Schwelle meistens nur die Türschwelle.
Sie ist ein sichtbarer Grundbalken des Hauses. Über sie
muss man schreiten, um in den schützenden und
geschützten Bereich des Hauses zu gelangen. Auf die Schwelle
eines Feindes setzen wir dagegen keine Fuß, und auch
er soll nicht über unsere Schwelle kommen. Sind wir
irgendwo neu, bleiben wir zunächst an der Schwelle
stehen und schauen uns um. Erwarten wir einen gerngesehenen Gast,
dann begrüßen wir ihn schon auf der Schwelle
und wir begleiten ihn auch bis dorthin, wenn er sich wieder
verabschieden muss.
Die Türschwelle ist eine elementare
Grenze zur feindlichen Außenwelt. Auch wenn wir nicht an
Geister glauben und in einer relativ sicheren Umwelt leben,
kennen wir das Aufatmen, wenn wir nach langer Abwesenheit,
nach einem anstrengenden Arbeitstag, nach komplizierten Begegnungen
mit Menschen wieder über unsere Wohnungsschwelle schreiten
und die Tür hinter uns schließen. Unsere Vorfahren
haben dieses Erleben in bildhafte und sehr konkrete Vorstellungen
gefasst: Sie nahmen zum Beispiel an, dass die Geister sich unter
der Schwelle sammeln und von dort nicht weiter können.
Damit dies so bleibt, wurden ihnen Opfer dargebracht und es
wurde sorgfältig darauf geachtet, dass die Schwelle
richtig behandelt wurde. Sie wurde blank gescheuert.
Der Kehricht wurde nicht über die Schwelle hinausgekehrt,
weil dann mit ihm das Glück hinausgekehrt worden wäre.
Man betrat die Schwelle gar nicht oder wenn, dann möglichst
mit dem rechten Fuß. Der Sarg mit dem Toten wurde dreimal
auf der Schwelle niedergesetzt, damit er nicht wiederkäme
und im Haus, wohin er nicht mehr gehörte, herumspukte.
Ein noch ungetauftes Kind wurde nicht aus dem Haus über
die Schwelle getragen, damit ihm die Geister nicht schadeten.
Zur Sicherung des Segens im Haus wurden Glücksbringer
an der Schwelle angebracht, zum Beispiel das Hufeisen.
Tote wurden mitunter unter der Schwelle bestattet, um den
Lebenden Segen zu bringen. Und die Braut - das ist ein Brauch,
den auch wir noch kennen - wurde bei ihrem ersten Einzug
ins Haus vom Bräutigam über die Schwelle getragen.
Dies alles ist nur ein kleiner
Ausschnitt aus der Fülle der Bräuche, die sich
um die Türschwelle ranken. Manches mag dem einen oder
anderen primitiv oder abergläubisch oder folkloristisch
erscheinen. Vieles wird sich aber doch im Grunde mit
unserem Erleben decken. Die alten Bilder und Symbole stimmen
auch für uns moderne Menschen noch: Das Überschreiten
einer Schwelle, der Übergang von einem in den
anderen Bereich oder von einer in die andere Lebensphase
wird auch von uns immer wieder als kritischer Vorgang erlebt.
Sogar mehr als das: Trennung kann uns das Herz zerreißen;
die Angst vor etwas ganz Neuem kann größte
Panik hervorrufen; es gibt Übergangssituationen,
in denen wie tausend Tode sterben.
Aus diesen urmenschlichen
Grunderfahrungen sind in allen Kulturen Übergangsrituale -
ein synonymer Begriffe, den wir gelegentlich auch verwenden
werden ist Schwellenrituale - entstanden, die dem Einzelnen
oder auch einer Gruppe helfen sollen, die kritische Situation
eines Übergangs zu bewältigen. Man könnte
Rituale als eine ursprüngliche und sehr wirksame Form
von Krisenmanagement und Lebenshilfe bezeichnen.
Heute sehnen sich viele
Menschen wieder nach dieser altbewährten Form
der rituellen Begleitung an den Schwellen des Lebens.
Denn das Leben bietet auch uns, trotz allen kulturellen
Fortschritts, trotz unserer ziemlich weitreichenden
materiellen und politischen Sicherheit, mehr als genug
Gelegenheiten über Schwellen zu stolpern. Wie unsere
Vorfahren brauchen wir Hilfen, um die Schwellen des Lebens
glücklich zu überschreiten. Warum sollte nicht
auch für uns das alte Wissen der Übergangsrituale
hilfreich sein? Könnte es nicht möglich sein,
verstaubte und halb vergessene Formen wieder zu beleben?
Könnte nicht rituelles Handeln eine sinnvolle
Ergänzung unseres gewohnten Nachdenkens und
Diskutierens sein?
Das vorliegende Buch beschreibt,
was lebendige und wirksame Übergangsrituale ausmacht,
wie und warum sie funktionieren, was sie bewirken, was ihr
tiefster Sinn und ihr großes Ziel ist. Wir haben dieses
Wissen im Laufe der Zeit zum großen Teil verloren,
aber es lässt sich leicht wieder erschließen.
Wenn diese Quelle freigelegt ist, dann können sich Formen
bilden, die unserer Zeit und unseren Bedürfnissen
entsprechen. Der Umweg über die Geschichte, den wir
dazu nehmen müssen, ist weder mühsam noch trocken.
Geschichte besteht aus Geschichten und die sollen in
diesem Buch reichlich erzählt werden. Sie erzählen
vom Leben und seinen immer wiederkehrenden Themen:
Geborenwerden, Erwachsenwerden und Sterbenmüssen -
und allem, was an Stolperschwellen dazwischen ist.
Wir werden auch Umwege nehmen, gelegentlich abschweifen,
das Thema von den verschiedensten Seiten umkreisen,
doch alles dient dem Ziel, die Weisheit der Rituale,
die Kraft ihrer Bilder und Handlungen zu begreifen.
Schwellenrituale begleiten den
Übergang von einer Lebensphase in eine andere, das
heißt, sie gestalten Lebenszeiten, die geprägt
sind von Abschied, Trennung und Schmerz. Die menschliche
Erfahrung hat hierin immer auch Todeserfahrungen gesehen.
Und so spielen in diesen Ritualen Bilder des Todes eine
herausragende Rolle. Deshalb wird es auch in diesem Buch
immer wieder um den Umgang mit dem Tod gehen -
allerdings mit dem Ziel, so gut es irgend geht zu leben.
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