LESEPROBE
Wie alles begann
Als
ich 1998 in die Warthestraße ziehen wollte und das überall
herum erzählte, riefen viele: "Um Gottes willen, bloß nicht,
das ist die schlimmste Straße in der Gegend!"
Wenn ich dann sagte: "Aber das Haus ist toll, die Wohnung
schön, die Nachbarn nett, vorne der Platz mit den Bäumen
und den vielen Kindern, hinten der Friedhof mit noch mehr Bäumen..."
dann kam als Antwort "Trotzdem, mach das lieber nicht,
ich habe von vielen gehört, dass es da ganz krass ist."
Um
es kurz zu machen: Es war nicht schlimm, ganz im Gegenteil und
wir wohnen immer noch hier und haben inzwischen die halbe Familie nachgeholt.
Ich will aber auch nicht romantisieren: Der Ärger über Müll auf der
Straße und der Zwang, auch bei schönstem Wetter wegen der
Hundekacke nicht zum Himmel sondern immer auf den Boden starren zu
müssen, hat uns hier von Anfang an begleitet.
Aber
das Gute hat immer überwogen: Die Lebendigkeit auf der Straße,
das Grün, die Mischung aus "Eingeborenen" und Migranten
unterschiedlichster geografischer und sozialer Herkunft:
Es gibt hier Studenten,
Großfamilien, Kleinfamilien und Singles aus Deutschland und der ganzen Welt.
Es gibt hungernde Künstler, Künstler, die nicht hungern müssen,
Gelegenheitsjobber, Hartz-IV-Empfänger, Akademiker, Unternehmer, Bibliothekare,
Handwerker und alles, was man sich an Berufen so vorstellen kann.
Es gibt Alkoholiker und Vegetarier, Hundefreunde und Hundehasser, Streithammel und
Friedenspfeifen, CDU-Wähler und Grüne, angenehme Nachbarn und unangenehme.
Der Bürgermeister von Neukölln kommt gern mal vorbei und zu
48-Stunden-Neukölln auch eine nennenswerte Anzahl wagemutiger
Nicht-Neuköllner. (Wir haben aus sicherer Quelle erfahren, dass sich
einige von ihnen hinterher mit dem Abenteuer brüsteten, in Neukölln,
gar in der Warthestraße gewesen, und mit heiler Haut davon gekommen zu sein!)
Die Warthestraße
kommt vielen, die hier länger leben manchmal vor wie ein Dorf:
Man sieht häufig die selben Gesichter; der Wartheplatz bildet quasi das
"Dorfzentrum"; die Kinder, die dort spielen und die Erwachsenen,
die dort sitzen, bewegen sich mit der Selbstverständlichkeit des Zu-Hause-Seins.
Andererseits
ist unsere Straße aber immer auch Großstadt:
Natürlich trifft man auf der Straße viel mehr Menschen aus aller Herren
Länder, die man noch nie gesehen hat als solche, die man zu kennen meint.
Und auch wenn man sich regelmäßig über den Weg läuft, spricht
man sich doch viel seltener an als es in einem Dorf üblich ist. Das
großstädtische Gefühl der Anonymität gehört auch zu uns.
Mancher mag genau diese Anonymität suchen, oft ist es aber auch die Scheu,
den ersten Schritt zu tun, Neugier zu zeigen, stehen zu bleiben
und zu fragen: "Wer bist du, Nachbar? Woher kommst du? Was machst du so?
Wovon träumst du? Was freut dich? Was ärgert dich? Was glaubst du?
Verstehst du mich? Versteh ich dich?"
Für
dieses Buch wurde versucht, Menschen in der Warthestraße genau
diese Fragen zu stellen. Es sind alles Menschen mit Migrationshintergrund, die jede
Menge zu erzählen haben - wenn sie sich trauen. Denn es gibt nicht nur die
Scheu zu fragen, sondern auch die Scheu zu antworten. Die Angst ist sehr verständlich:
Wird mein Gegenüber verstehen, was ich von meinem Leben, meiner Kultur,
meiner Religion erzähle? Was passiert, wenn ich mich öffne und Einblick
in ein Leben gebe, das vielen Deutschen fremd erscheinen wird? Werde ich in eine
Ecke gestellt, benachteiligt, ausgegrenzt? Wer glaubt mir, wenn ich hier in diesem
Land von Krieg, Verfolgung und Zwangsheirat erzähle? Wer kann mein
Zerrissensein zwischen zwei Sprachen und Kulturen verstehen?
Wir
leben in Neukölln, nicht in Zehlendorf - viele Menschen, die hier wohnen,
sind arm und schämen sich, diese Armut zu zeigen. Einer der Interviewten sagte es direkt:
"Wer sozial benachteiligt ist, hat mehr Befürchtungen und fragt sich
schnell: 'Was wollen die von mir?' und zieht sich lieber zurück."
Wenn es einem rundherum gut geht, ist es viel einfacher, von sich zu sprechen,
das kann wohl jeder nachvollziehen. Denn wer von uns spricht schon gern über
Armut, Heimweh, Ausgrenzung, Ablehnung, Angst, Sorge um die Zukunft?
Allerdings wird das Leben vom Zurückziehen auch nicht unbedingt besser, denn das,
was zu allererst Lebensmut gibt, ist ja gerade der soziale Kontakt, die Nähe zu Menschen,
Freundschaft, Verstehen. Und damit wir uns verstehen, müssen wir voneinander wissen,
beginnen, uns ein wenig von unseren Erfahrungen zu erzählen, kleine Schritte aufeinander
zu machen, über Sprachbarrieren, kulturelle und religiöse Unterschiede hinweg,
schließlich leben wir alle in einer Stadt, sogar in einer Straße und wollen gut miteinander
auskommen.
Diese
kleinen Schritte tun manche hier in der Straße. Beispielhaft sind die
Einrichtungen Warthe 60 und das Warthe-Mahl. Die Warthe 60 ist ein Projekt des Diakonischen
Werkes zur Gewaltprävention und bietet Kindern und Jugendlichen einen beliebten Anlaufpunkt.
Die Mitarbeiter vermitteln und schlichten zwischen den Generationen und Kulturen wo sie nur können.
Das Wart(h)e-Mahl berät und unterstützt Frauen, Familien und Senioren, ist ein Ort
für Diskussionsrunden mit der Nachbarschaft und Treffpunkt überhaupt. Auch hier werden
Menschen unterschiedlichster Herkunft zusammengebracht und lernen, aufeinander zuzugehen.
Gutes Essen aus aller Welt spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle!
23 Menschen,
die in der Warthestraße wohnen, arbeiten oder ihre Kinder in den Kindergarten bringen,
haben den Mut gehabt, für dieses Buch von sich zu erzählen. Auch sie haben damit
Schritte des Aufeinander-Zugehens getan, die gar nicht hoch genug bewertet werden können.
Ich danke ihnen sehr herzlich für ihren Mut und ihre Offenheit!
Ich
danke auch dem Quartiersmanagement Schillerpromenade, das dieses Buch-Projekt engagiert
unterstützt und gefördert hat.
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