LESEPROBE
1. Tag, 28. Juli: München (519 m) -
Wolfratshausen (576 m)
Mit deiner Ranz'n musst eh bis Portugal laffa!
Der
Ausgangsort für meine Alpenüberquerung war der Marienplatz
im Herzen Münchens. Zusammen mit weiteren sechs Krebspatienten
und drei Studenten der Sporthochschule Köln hatten wir uns vor der
Mariensäule verabredet und sind dort nahezu zeitgleich eingetroffen.
Strahlend
schön war es, als wir uns alle begrüßt hatten.
Entsprechend gut war die allgemeine Stimmung, und kein einziger der
vielen Schaulustigen - angezogen durch die Kamerateams des ZDF und
MDR-Fernsehens - hätte in uns eine Gruppe von Krebskranken
vermutet. Nichts deutete daraufhin. Im Gegenteil. Die Freude stand
uns allen ins Gesicht geschrieben und insbesondere wohl auch mir,
denn in diesem Moment sah ich meinen Lebenstraum erfüllt:
Einmal in meinem Leben die Alpen überqueren! Mit allem was
dazu gehört: Tagesetappen mit acht bis zwölf Stunden
Gehzeit; hochalpines Gelände mit Felsquerungen, Nebel,
Regen, Schnee und Eis, und dazu ein schwerer Rucksack. Diese
Aussichten haben meine Freude noch vertieft, und ich fühlte mich
pudelwohl. Noch...
Ein
Arzt hätte allerdings bei genauem Hinsehen vielleicht ein
metabolisches Syndrom (= gemeinsames Auftreten von Übergewicht
und anderen Wohlstandskrankheiten) erkannt. Ich war nämlich
mit Abstand der korpulenteste Wandergeselle.
Deshalb
hatte ich mit meinem Wanderziel Venedig noch einen Vorsatz
und einen Wunsch verbunden: Der Vorsatz war, mein erhebliches
Übergewicht von über 20 Kilogramm zu reduzieren. Der
größte Wunsch war, dass mein seit einem Jahr ständig
steigender PSA-Wert sinken würde. Um meinem Vorsatz,
Gewicht abzubauen, Entschiedenheit zu verleihen, hatte ich mir
eine Hose in den Rucksack gepackt, die mir schon seit fast zwei
Jahren viel zu eng war. Genau diese Hose wollte ich dann beim
Einzug in Venedig tragen.
Ob
sich mein Wunsch nach einem sinkenden PSA-Wert erfüllen
und mir die Hose in Venedig passen würde, würde sich
zeigen. Ich komme später darauf zurück.
Doch
nun wieder nach München: Mit uns hatten sich Journalisten,
Rundfunk- und Fernsehanstalten eingefunden, weil es bisher das erste
und einzige wissenschaftlich begleitete Projekt einer Alpenüberquerung
war. Entsprechend groß war das Interesse an diesem Projekt
der Sporthochschule Köln.
In
sehr vielen Presseartikeln, Rundfunk- und Fernsehsendungen wurde
umfassend davon berichtet. Vielleicht auch deshalb, weil der
"Architekt" dieses Fernwanderweges, Ludwig Graßler,
anwesend war und einen Teil der ersten Etappe mitwanderte -
ein sehr interessanter Gesprächspartner und hilfsbereiter
Mensch, wie sich noch herausstellen sollte.
Wie
erheblich das Medieninteresse war, bewies mir eine SMS, die ich aus
Italien erhielt. Dort konnten nämlich Familienangehörige
in einer Nachrichtensendung des ZDF meinen Abmarsch in Richtung
Englischer Garten verfolgen.
Als
einziger bayerischer Teilnehmer hat mich dann auch ein Reporter
des Bayerischen Rundfunks befragt, und ich hatte den Eindruck,
dass er mich um dieses Abenteuer beneidet.
Vielleicht hat er auch meine Begeisterung nachempfinden können,
denn der Reporter sagte in der Rundfunksendung wörtlich:
"Dabei ist Ernst Rex aus Bayreuth, der die Rolle des
Bergführers übernehmen will..." Doch was
daraus geworden ist, dazu später mehr.
Nach
diesem Interview verabschiedete ich mich dann von meinem
Sohn Marcus, der mich schon in den frühen Morgenstunden
vom Bahnhof München abgeholt und zum Marienplatz
begleitet hatte. Zu meiner Überraschung überreichte
er mir nach einem gemeinsamen Frühstück im
Café Richard einen Briefumschlag und meinte: "Wenn es
dir einmal nicht gut geht, dann lies meinen Brief."
Ich
ahnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ich schon sehr
bald auf sein Angebot zurückkommen würde.
Die ersten 20 Kilometer auf dem Weg von München nach
Wolfratshausen waren wie Spazierengehen in einem großen
Park. Begleitet von herrlichem Wetter, inmitten einer einzigartig und
wunderbaren Natur, beseelt von einem Gefühl der Freiheit
und der Leichtigkeit schwebte ich - zumindest in meinen Gedanken -
dem ersten Etappenziel in Wolfratshausen entgegen. Über mein
Handy erreichten mich zwei SMS von Bergfreunden aus Bayreuth, die
mir mitteilten, an meinen Erfolg zu glauben und die mir alles Gute
wünschten.
Es
war nicht umsonst, denn allmählich spürte ich mein
Übergewicht von mehr als 20 Kilogramm, und ich merkte auch,
dass ich körperlich unvorbereitet war. Mehr noch: Ich hatte auf
dem Rücken einen Rucksack mit annähernd 20 Kilogramm
und außerdem neue Wandersandalen. Das konnte im wahrsten
Sinne des Wortes "nicht gut gehen". Das Gewicht drückte
zunehmend auf meine Schultern, und unaufhörlich tropfte
mir der Schweiß in die Augen. Trotz starker Schmerzen an
den Füßen lief ich langsam und schwerfällig weiter.
Ich
war enttäuscht und traurig zugleich, weil ich nach 40 Jahren
Wandererfahrung, einschließlich Grundausbildung bei der
Bundeswehr, noch nie eine Blase, geschweige denn mehrere Blasen
am Fuß gehabt hatte.
Trotzdem,
in diesem Moment dachte ich nur an mein Ziel: Venedig.
Das Bild dieser herrlichen Stadt vor Augen, ließ mich für
einige Zeit die quälenden Beschwerden vergessen. Wenn ich
auch Schmerzen hatte, so war ich dennoch zufrieden, weil ich dabei
war, einfach nur dabei. Es wäre ein Alptraum für mich
gewesen, aufgeben zu müssen.
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