|
München - Venedig
Der Zug fährt durch
Sonnenblumenfelder. Schwere, blühende Sonnenblumen,
so weit das Auge reicht. Ein Anblick, von dem ich mich gar nicht lösen kann.
Trotzdem werde ich plötzlich von Unruhe gepackt. Ich hole meinen Rucksack
aus der Gepäckablage, öffne ihn und erstarre - er ist voller
zusammengerollter Socken. Nichts als Socken. Keine Hosen, Pullover, Jacken,
kein Geld, keine Versicherungskarte, kein Proviant, nur Socken. -
Schweißgebadet wache ich auf. Gott sei Dank, nur ein Traum.
Zentnerschwer ist der Stein, der von meinem Herzen poltert, eigentlich
sollte er das ganze Haus aufwecken. Aber sogar Lothar neben mir
schläft selig schnorchelnd weiter und ahnt nichts von meiner
eben durchstandenen Panik. Da ist sie mal wieder: die Angst vor der
eigenen Courage. In der Nacht gewinnt sie Oberhand. Ich kenne das.
So ist es mir schon immer vor größeren Abenteuerreisen
gegangen: einige Wochen, bevor es losgeht, ergreift mich eine wilde
Mischung aus Verwegenheit und Angst. Die Nacht gehört den Albträumen.
Am Tag dominiert die Vorfreude.
Jetzt ist es die Vorfreude auf
sechs Wochen Ausszeit, die Vorfreude auf das Abenteuer, zu Fuß
die Alpen zu überqueren. Immer wieder, wenn wir in den Alpen
unterwegs waren, haben wir davon gesprochen, dass wir einmal in
unserem Leben den Weg von München nach Venedig gehen wollen,
einmal die Alpen überqueren. Wir waren schon öfter zur
Kunst-Biennale da, immer haben wir davon geredet, wie verrückt
es sein müsste, mal zu Fuß aus diesem Anlass nach
Venedig zu gehen. Spinnerei! Woher so viel Urlaub auf einmal
nehmen? Und was das wohl kostet! Utopisch, dachten wir jahrelang.
Dann, mit einem Mal ist es soweit, wenn nicht jetzt, dann nie.
Lothar als Freiberufler kann sich sechs Wochen frei schaufeln.
Bei mir in der Beratungsstelle geht gerade alles drunter und
drüber, da kommt es auch nicht mehr darauf an, wenn ich
ungewöhnlich viel Urlaub auf einmal nehme. Ich brauche die
Zeit, um einmal aus allem rauszukommen, mich neu zu sortieren,
ich will die Zeit.
Eine Woche vor Beginn der Reise
fällt in einer Vorstandssitzung
plötzlich der Begriff "Urlaubssperre". Ich stelle mich taub.
Ein Kollege springt in die Bresche und erklärt, dass das nicht
nötig sei. Die Diskussion wird fallengelassen, ich bin heilfroh.
In der folgenden Nacht denke ich dann aber: Vielleicht wäre ich
auf diese Art elegant um unser Abenteuer herumgekommen, hätte
die Suppe nicht auslöffeln müssen, die ich mir da eingebrockt
habe, als ich aller Welt begeistert erzählte, dass wir zu
Fuß über die Alpen wollen. Hätte sagen können:
"Leider, ich würde ja so gerne, aber ich darf nicht,
böser Arbeitgeber..." - und wäre klammheimlich
erleichtert gewesen, nicht beim Wort genommen zu werden.
Aber wäre ich das wirklich?
So geht es hin und her zwischen
Tag und Nacht. Ich weiß aus Erfahrung,
dass dieser Zustand mit Beginn der Reise schlagartig beendet sein wird.
Bis dahin muss ich durchhalten und das Beste hoffen. Ich habe es so gewollt.
Ich will es so. Ich kann an gar nichts anderes mehr denken.
Ich denke an nichts anderes mehr. Wie es sein wird male ich mir aus,
die Anstrengung jeden Tag, die Höhenmeter, das Rucksackgewicht...
Wird das Wetter mitspielen? Kann ich das Gepäck noch reduzieren?
Wie viel kann und will ich tragen? Was brauche ich wirklich? Wie
verlässlich sind die beiden Wanderführer? Für welchen
entscheiden wir uns? Den Klassiker von Ludwig Graßler oder den
von den Lamsbachs? Graßler startet gleich mit 30-km-Etappen, die
Lambsbachs sind da freundlicher. Oder nehmen wir beide mit? Was ist mit
den Klettersteigen? Kann ich das, trau ich mir das zu? Geld, Medikamente,
eiserne Rationen? Sind die neuen Bergstiefel gut genug eingelaufen? Wem
kann man zu Hause über Wochen die Wohnung und das Blumengießen
zumuten? Wie wird es sein, wenn alles schiefgeht und wir leise weinend ein
paar Tage nach dem großen Aufbruch wieder in Berlin sind? Nein, es geht
nicht schief, irgendwie hat immer alles geklappt, auch wenn am Ende
etwas ganz anderes herausgekommen ist, als wir am Anfang geplant hatten.
Aber so etwas Großes?
Dann der Durchbruch: Es geht los!
Egal, was geschehen wird, es geht endlich los!
Alle, die sich für die Ost-Umgehung des Schiara-Klettersteigs interessieren,
also die Variante ohne Busfahrt, finden in dem folgenden Bericht
eine genaue Schilderung des Weges.
Bericht zur Ostumgehung der Schiara [PDF]
|