LESEPROBE
Woher kommst du, wohin gehst du?
Vor Jahren eines Morgens
auf dem Weg zur Arbeit: Ich war spät
dran und ging in meinem Geschwindschritt. Einige Häuser weiter
stürmte in dem Augenblick, in dem ich daran vorbei eilte,
ein Mann auf die Straße, im selben Tempo, in die selbe Richtung.
Wir gingen eine Weile nebeneinander her, als wenn wir
zusammengehörten. Allmählich wurde die Situation
komisch, keiner konnte den anderen überholen, keiner
verlangsamte das Tempo. Ich ging mit einem wildfremden Mann,
als wenn wir zusammengehörten. Allmählich wurde ich
sauer, ich hatte aus dem Augenwinkel gesehen, dass er ein
Ausländer war, genaueres war mir nicht klar, und ich
dachte: "Nö, bloß weil du ein Mann bist und
ich eine Frau, gebe ich doch nicht nach, das denkst du dir
vielleicht so, das ist bei uns nicht so und heute mit mir
schon gar nicht.!" Wir liefen immer weiter. Plötzlich
dreht er das Gesicht zu mir und sagte: "Schönes
Wetter heute." - Und das Eis war gebrochen. Bis zur
S-Bahn schwatzten wir miteinander.
Von da an begrüßten wir uns wie alte Bekannte.
Wenn wir uns mal wieder trafen, erzählte er mir von
seiner Familie, von Südindien, woher er stammte.
Seine drei großen Kinder haben alle gute Ausbildungen
gemacht und sind sein ganzer Stolz. Wir haben schon über
Gott und die Welt geredet, im wahrsten Sinne des Wortes.
Ich habe ihn begierig ausgefragt, weil er interessant ist,
klug und liebenswürdig. Kurz vor Weihnachten letzten
Jahres sah ich ihn eines Abends vor mir gehen, mit einem
schweren Koffer, neben ihm eine zierliche Frau, auch mit
Gepäck und einem kleinen Kind auf dem Arm. Ich habe
sie eingeholt, begrüßt und es war klar, dass
es eine seiner Töchter ist, die zu Besuch kam.
Als ich fragte, ob ich ihnen nicht etwas abnehmen könnte,
drückte sie mir das tief schlafende Kind in den Arm,
ganz selbstverständlich, und wir gingen zusammen
durch die Warthestraße bis zu ihrem Haus. Das ist
Neukölln, dachte ich, als wir uns verabschiedeten,
und bin zufrieden mit mir und der Welt die letzten
Schritte nach Hause gegangen.
"Wo kommst du her, wo gehst du hin?"
Diese Frage haben wir fast allen Menschen gestellt,
die in unserem Haus wohnen, genauer gesagt, in einem
Aufgang unseres Hause. Es ist ein riesiger Komplex,
ein gründerzeitliches "Schlachtschiff" mit
drei Eingängen und einem Hinterhaus, mitten in
Neukölln. Weitaus die meisten Wohnungen in unserem
Aufgang sind Ein- oder Zwei-Zimmer-Wohnungen, deshalb
wohnen weniger große Familien mit Kindern hier
als in den Nachbarhäusern, dafür gibt es viele
Studenten. Während dieses Buch entsteht, zieht
gerade wieder eine junge Familie mit Kind aus. Die kleinen
Wohnungen sind oft "Durchgangsstationen", und
so herrscht ein ständiges Kommen und Gehen.
Umzugswagen und Dielenschleifarbeiten gehören zum Alltag.
Dann gibt es einen "harten Kern" von Mietern,
die sich hartnäckig diesem Trend widersetzen und
Jahr um Jahr bleiben - sogar das ganze Leben lang.
Diese Mischung aus "Sesshaften" und "Nomaden"
funktioniert gut. Sie hat unsere Neugier zusätzlich
beflügelt, endlich einmal von allen im Haus -
auch wenn sie bald wieder ausziehen - etwas mehr zu erfahren.
Warum leben sie gerade in Neukölln?
Neukölln, der verrufene, bundesweit berüchtigte
Stadtbezirk, der Stadtbezirk, der für Krieg auf den
Straßen und an den Schulen, für Ausländer,
Terroristen, für einen Durchschnitts-IQ von unter 90
und wer weiß noch was alles steht. Der Bodensatz der
Gesellschaft. Wenn überhaupt, dann begibt man sich bei
Tag, am besten mit kugelsicherer Weste hierher und verschwindet
so schnell es geht...
Neukölln ist nicht unbedingt der "angesagte" Bezirk.
Alle von uns, die wir hier wohnen, kennen es, dass man sich
erklären oder gar entschuldigen muss, wenn man hier
wohnt. Die Mär vom Krieg auf den Straßen und
in den Schulen hat uns bundesweit berühmt gemacht.
Wenn man mittendrin lebt, sieht die Wirklichkeit anders aus.
Es gibt sie, die dunkle Seite - aber wo gibt es die nicht?
Und wir meckern darüber. Wer tut das nicht? Der große
Unterschied ist: Hier ist sie sichtbar, die dunkle Seite,
überdeutlich, so deutlich, dass sie die normale, friedliche und
freundliche Seite manchmal vollkommen überdeckt.
In Wirklichkeit leben hier nämlich neben den
"Problemfällen" viele "eingeborene"
Berliner, Studenten, Künstler, Lebenskünstler mit
einem bunten Gemisch von Migranten aus aller Welt in aller
Regel friedlich zusammen.
Schon Tucholsky wusste, dass der Berliner "vorne Nordsee
und hinten Alpen" will. Klar, auch wir wollen das und
haben es noch nicht geschafft. Alles Gute ist eben nie beieinander,
das wäre unbezahlbar - vielleicht wäre es aber auch langweilig?
Hier im Haus, das werden Sie, liebe Leser, nach der Lektüre
vor Augen habe, leben Menschen, die sich, jeder auf seine Weise,
auf diesen sonderbaren Schmelztiegel Neukölln einlassen,
Menschen, die mehr nach sinnvoller Arbeit und Lebensgestaltung
als nach Reichtum streben, Menschen, die nicht fertig sind mit der
Welt - mit einem Wort: ganz normale Berliner, die Eingeborenen
und die Rucksackberliner.
Die Resonanz auf unser Anliegen im Haus war groß.
Fast alle haben mitgemacht, voller Neugier und Bereitschaft,
über sich selbst zu erzählen und von den anderen
zu hören. Es ist eine Neugier, die vom Interesse am
Gegenüber geprägt ist, die sich aus der Großstadt-Erfahrung
speist, dass es die alltägliche Lebensqualität hebt,
wenn man immer wieder mal jemandem trifft und einen kurzen
Schwatz halten kann - kleine freundliche Einsprengsel in die
Anonymität einer Großstadt.
Unsere Geschichten sind nichts Großes, normale Menschen
erzählen vom normalen Durcheinander der Lebens, vom Scheitern
und von Träumen für die Zukunft. Und es gibt nichts
Spannenderes, als sich gegenseitig vom Leben zu erzählen,
lesen Sie selbst!
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