BUCHPRÄSENTATION

Angelika-Benedicta Hirsch, Lothar Köster

Ein Haus in Neukölln. Fast eine Liebeserklärung

Reihe: ...woher-MENSCH-wohin..., 19 S/W-Portraits, 222 Seiten

21. 06. 2008 VVPN 00001009  

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Autor-Info:

Dr, Angelika B. Hirsch, Berlin hirsch@grenzgaenge.de

Lothar Köster, Berlin

 

Zusammenfassung

Leseprobe

ZUM INHALT

Unter der Fragestellung "Woher kommst Du? Wohin gehst Du?" haben wir fast alle Bewohner unseres Hauses interviewt. Die Nachbarn geben einen Einblick in ihre individuelle Lebensgeschichte und in ihre Träume für die Zukunft.

Diese Portraits offenbaren eine große Vielfalt in den Schicksalen, aber auch eine überraschende Identifizierung mit dem Wohnumfeld. Die Geschichten aus der Vergangenheit und Gegenwart widerlegen die gängigen Neukölln-Klischees mit viel Witz, Selbstironie, Nachdenklichkeit und einer erstaunlichen Portion an Lebensweisheit.

Überraschend zeigen sich hier die positiven Qualitäten des Quartiers: Die Sesshaftigkeit der Alten, die Aufgeschlossenheit der Jungen und die Ausgewogenheit der sozialen Mischung.

LESEPROBE

Woher kommst du, wohin gehst du?

Vor Jahren eines Morgens auf dem Weg zur Arbeit: Ich war spät dran und ging in meinem Geschwindschritt. Einige Häuser weiter stürmte in dem Augenblick, in dem ich daran vorbei eilte, ein Mann auf die Straße, im selben Tempo, in die selbe Richtung. Wir gingen eine Weile nebeneinander her, als wenn wir zusammengehörten. Allmählich wurde die Situation komisch, keiner konnte den anderen überholen, keiner verlangsamte das Tempo. Ich ging mit einem wildfremden Mann, als wenn wir zusammengehörten. Allmählich wurde ich sauer, ich hatte aus dem Augenwinkel gesehen, dass er ein Ausländer war, genaueres war mir nicht klar, und ich dachte: "Nö, bloß weil du ein Mann bist und ich eine Frau, gebe ich doch nicht nach, das denkst du dir vielleicht so, das ist bei uns nicht so und heute mit mir schon gar nicht.!" Wir liefen immer weiter. Plötzlich dreht er das Gesicht zu mir und sagte: "Schönes Wetter heute." - Und das Eis war gebrochen. Bis zur S-Bahn schwatzten wir miteinander.

Von da an begrüßten wir uns wie alte Bekannte. Wenn wir uns mal wieder trafen, erzählte er mir von seiner Familie, von Südindien, woher er stammte. Seine drei großen Kinder haben alle gute Ausbildungen gemacht und sind sein ganzer Stolz. Wir haben schon über Gott und die Welt geredet, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich habe ihn begierig ausgefragt, weil er interessant ist, klug und liebenswürdig. Kurz vor Weihnachten letzten Jahres sah ich ihn eines Abends vor mir gehen, mit einem schweren Koffer, neben ihm eine zierliche Frau, auch mit Gepäck und einem kleinen Kind auf dem Arm. Ich habe sie eingeholt, begrüßt und es war klar, dass es eine seiner Töchter ist, die zu Besuch kam. Als ich fragte, ob ich ihnen nicht etwas abnehmen könnte, drückte sie mir das tief schlafende Kind in den Arm, ganz selbstverständlich, und wir gingen zusammen durch die Warthestraße bis zu ihrem Haus. Das ist Neukölln, dachte ich, als wir uns verabschiedeten, und bin zufrieden mit mir und der Welt die letzten Schritte nach Hause gegangen.

"Wo kommst du her, wo gehst du hin?"
Diese Frage haben wir fast allen Menschen gestellt, die in unserem Haus wohnen, genauer gesagt, in einem Aufgang unseres Hause. Es ist ein riesiger Komplex, ein gründerzeitliches "Schlachtschiff" mit drei Eingängen und einem Hinterhaus, mitten in Neukölln. Weitaus die meisten Wohnungen in unserem Aufgang sind Ein- oder Zwei-Zimmer-Wohnungen, deshalb wohnen weniger große Familien mit Kindern hier als in den Nachbarhäusern, dafür gibt es viele Studenten. Während dieses Buch entsteht, zieht gerade wieder eine junge Familie mit Kind aus. Die kleinen Wohnungen sind oft "Durchgangsstationen", und so herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Umzugswagen und Dielenschleifarbeiten gehören zum Alltag. Dann gibt es einen "harten Kern" von Mietern, die sich hartnäckig diesem Trend widersetzen und Jahr um Jahr bleiben - sogar das ganze Leben lang. Diese Mischung aus "Sesshaften" und "Nomaden" funktioniert gut. Sie hat unsere Neugier zusätzlich beflügelt, endlich einmal von allen im Haus - auch wenn sie bald wieder ausziehen - etwas mehr zu erfahren. Warum leben sie gerade in Neukölln? Neukölln, der verrufene, bundesweit berüchtigte Stadtbezirk, der Stadtbezirk, der für Krieg auf den Straßen und an den Schulen, für Ausländer, Terroristen, für einen Durchschnitts-IQ von unter 90 und wer weiß noch was alles steht. Der Bodensatz der Gesellschaft. Wenn überhaupt, dann begibt man sich bei Tag, am besten mit kugelsicherer Weste hierher und verschwindet so schnell es geht...

Neukölln ist nicht unbedingt der "angesagte" Bezirk. Alle von uns, die wir hier wohnen, kennen es, dass man sich erklären oder gar entschuldigen muss, wenn man hier wohnt. Die Mär vom Krieg auf den Straßen und in den Schulen hat uns bundesweit berühmt gemacht. Wenn man mittendrin lebt, sieht die Wirklichkeit anders aus. Es gibt sie, die dunkle Seite - aber wo gibt es die nicht? Und wir meckern darüber. Wer tut das nicht? Der große Unterschied ist: Hier ist sie sichtbar, die dunkle Seite, überdeutlich, so deutlich, dass sie die normale, friedliche und freundliche Seite manchmal vollkommen überdeckt. In Wirklichkeit leben hier nämlich neben den "Problemfällen" viele "eingeborene" Berliner, Studenten, Künstler, Lebenskünstler mit einem bunten Gemisch von Migranten aus aller Welt in aller Regel friedlich zusammen.

Schon Tucholsky wusste, dass der Berliner "vorne Nordsee und hinten Alpen" will. Klar, auch wir wollen das und haben es noch nicht geschafft. Alles Gute ist eben nie beieinander, das wäre unbezahlbar - vielleicht wäre es aber auch langweilig? Hier im Haus, das werden Sie, liebe Leser, nach der Lektüre vor Augen habe, leben Menschen, die sich, jeder auf seine Weise, auf diesen sonderbaren Schmelztiegel Neukölln einlassen, Menschen, die mehr nach sinnvoller Arbeit und Lebensgestaltung als nach Reichtum streben, Menschen, die nicht fertig sind mit der Welt - mit einem Wort: ganz normale Berliner, die Eingeborenen und die Rucksackberliner.

Die Resonanz auf unser Anliegen im Haus war groß. Fast alle haben mitgemacht, voller Neugier und Bereitschaft, über sich selbst zu erzählen und von den anderen zu hören. Es ist eine Neugier, die vom Interesse am Gegenüber geprägt ist, die sich aus der Großstadt-Erfahrung speist, dass es die alltägliche Lebensqualität hebt, wenn man immer wieder mal jemandem trifft und einen kurzen Schwatz halten kann - kleine freundliche Einsprengsel in die Anonymität einer Großstadt.

Unsere Geschichten sind nichts Großes, normale Menschen erzählen vom normalen Durcheinander der Lebens, vom Scheitern und von Träumen für die Zukunft. Und es gibt nichts Spannenderes, als sich gegenseitig vom Leben zu erzählen, lesen Sie selbst!

 

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