LESEPROBE
Ein-Gang
Schon wieder eine neue Therapie? Vielleicht endlich eine Wundertherapie, die alles heilt? Nichts von beidem, weder ist es neu, dass Wandern heilend wirkt, noch bewirkt es einklagbare Wunder. Wunder können dennoch geschehen, in der Regel allerdings sind sie hart erarbeitet und für den äußeren Betrachter von unscheinbarer Gestalt. Dieses Konzept des therapeutischen Wanderns ist aus der Praxis und in der Praxis entstanden, und hier soll der Versuch unternommen werden, es auch jenseits des Gefühlten zu begründen.
Begonnen hat alles natürlich mit meinen eigenen guten Erfahrungen beim Unterwegssein in der Natur, den Erfahrungen, wie sich der Geist klärt, wie angenehm die Müdigkeit am Abend ist, wie sehr Anstrengung belohnt werden kann, wie viele gute Ideen unterwegs kommen, wie gelassen ich werde und dergleichen mehr.
Ich habe das Glück, in einer Krisen- und Lebensberatungsstelle zu arbeiten, die es uns ermöglichte, auch unkonventionelle Ideen auszuprobieren und auf ihre Wirksamkeit hin zu prüfen. So konnte ich über längere Zeit einmal pro Jahr mit Klienten auf Wanderschaft gehen und Erfahrungen sammeln. Wir haben diese Wanderungen "therapeutisch-spirituelle Wanderungen" genannt. Das war "irgendwie" naheliegend, weil die Beratungsstelle einen kirchlichen Träger hat. Aber diese Benennung traf, so zeigte die Erfahrung, auch tatsächlich zu. Irgendetwas an diesen Wanderungen ist handfest spirituell, und das ist etwas, was keiner der Beteiligten missen möchte. Was also hat es damit auf sich? Und wie verträgt sich das mit "therapeutisch"? Geht beides überhaupt seriös zusammen, entsteht nicht wieder irgendein wohltuendes Gemenge, eine neue esoterische Heilslehre mit zweifelhafter Dauerwirkung?
Dieses Buch versucht, eine Antwort auf diese Fragen zu geben. Es dokumentiert die Wanderung des Jahres 2007 durch den Harz - und zwar ungeschminkt. Eingefügt in die Dokumentation sind an den jeweils passenden Stellen weiterführende Überlegungen zu den Hintergründen des Konzeptes.
Es gibt dabei im Wesentlichen drei Ansatzpunkte:
Zum ersten ist das der Blickwinkel einer Religionswissenschaftlerin, die kritisch nachfragt, wie und warum etwas mit dem nebulösen Attribut "spirituell" funktioniert.
Zum zweiten sind das die Erfahrungen aus 10 Jahren Krisen- und Lebensberatung mit der Begleitung von Lebensumbrüchen und Übergängen vielfältigster Art.
Zum dritten ist das die Herangehensweise einer Atemtherapeutin, die ausgebildet und geschult ist, den Körper wach wahrzunehmen und zu befragen. Die Atemarbeit, die ich lehre, ist sehr physisch und konkret. Mit gymnastisch anmutenden Bewegungen und Übungen wird immer wieder nach den entstandenen körperlichen Empfindungen gefragt. Dabei entsteht allmählich eine Wachheit und Bewusstheit für den eigenen Körper, die sich allerdings nicht nur auf die Physis beschränkt, sondern auch Seele und Geist beeinflusst. Eine banale Erfahrung: Gehe ich gebückt, mit hängenden Schultern, dann nehme ich nicht nur die körperliche Haltung, sondern auch die seelische Befindlichkeit anders wahr, als wenn ich hoch erhobenen Hauptes durch den Raum schreite. Die Stimmung ändert sich schon, wenn ich dies spielerisch ausprobiere. Wie wichtig kann da die Bewusstheit für meinen Körper und den Atem im Alltag jenseits der Übungssituation sein! Im Üben erfahre ich den Unterschied, ich versuche ihm genau auf die Spur zu kommen, ihn zu benennen. So geschieht unspektakuläre aber tiefgreifende Wandlung im Alltag.
Das Wandern ist ebenfalls ein Üben, allerdings mit wesentlich längeren Bögen und noch mehr Raum für die besonderen Themen jedes einzelnen. Die Reize des Weges, der Natur, des Wetters provozieren auf eine andere Art, als es eine vorgeschlagene Bewegungsübung in einem Raum vermag. Die natürlichen Komponenten sind bei einer Wanderung zufälliger, rauer, unpersönlicher, kurz gesagt: Sie sind oft eine gehörige Zumutung. Die Versuche, diese Zumutungen mit der Achtsamkeit auf den Atem und überhaupt den ganzen Körper zu verknüpfen, kann allerdings zu den erstaunlichsten Ergebnissen führen.
Mit Sicherheit sind auch viele andere Wanderkonzepte denkbar, die von ganz anderen Ansätzen und Erfahrungen ausgehen. Es handelt sich hier also um ein empirisch entstandenes Konzept, das mit theoretischen Überlegungen unterfüttert wurde, es handelt sich nicht um das (alleinseeligmachende) Konzept.
Die Ausgangslage
Die Anforderungen unsere Zeit an Berufstätige werden immer höher. Es herrscht allgemein ein enormer Zeitdruck, der auch Menschen mit einer stabilen Konstitution aus dem Gleichgewicht bringen kann. Die Folgen sind dann eine allgemeine Unzufriedenheit, Stress, Rückenprobleme, psychosomatische Symptome, Herz- und Kreislauferkrankungen, Burn Out, Depression oder dergleichen mehr. Dem Erhalten der Arbeitskraft, der Motivation und der Gesundheit wird in den zunehmenden Anforderungen der Arbeitswelt zu wenig Zeit gewidmet, weil man (Arbeitgeber und Arbeitnehmer!) fürchtet, dass solche Regenerationszeiten "verlorene" Zeiten sind. Dabei zeigt die Erfahrung, dass regelmäßiger Rückzug mit Besinnung und Erholung nicht nur die Lebensfreude, sondern auch die Arbeitskraft erhalten und steigern.
Das aktuelle Stichwort "work-life-balance" nennt das Ziel: die Herstellung eines Gleichgewichtes zwischen Arbeit und Leben. Auch in diesem Schlagwort steht die Arbeit an erster Stelle. Dabei ist doch "die Arbeit" nicht das eine und "das Leben" das andere, sondern Arbeit ist ein Teil des Lebens. Auch während ich arbeite soll ich leben! Und je besser ich das gelernt habe, desto besser wird auch meine Arbeit werden.
Es geht, meiner Auffassung nach, um die Herstellung eines Gleichgewichtes, das den ganzen Menschen erfasst, nicht nur Teilbereiche wie Arbeit, Privates, Sport, Fortbildung, Philosophieren, Meditieren usw. Das benenne ich aequlibrium plenum = volles Gleichgewicht. Wie auch schon bei jeder spielerischen Gleichgewichtsübung erfordert die Herstellung eines so umfassenden Gleichgewichtes zwischen allen Lebensbereichen Einübung. Natürlich ist das ein Ideal, das entweder niemals ganz oder nur für kurze Zeit vollkommen erreicht werden kann. Manchmal sind sogar die Störungen, die uns ins Stolpern bringen, sehr fruchtbar in ihrer Wirkung. Es geht nicht um ein unerreichbares Ziel, sondern es geht darum, dass ich lerne, mit den normalen Schwankungen des Lebens und damit des Gleichgewichtes geschickt umzugehen, so wie der Seiltänzer eine lange Stange zum Ausbalancieren hat und damit gefährliche Abstürze vermeidet.
Das therapeutische Wandern ist eine Methode, die der geistigen, seelischen und körperlichen Regeneration und damit der Annäherung an dieses Gleichgewicht dient. Es ist in seinem Anspruch mehr als ein Urlaub und weniger als eine Kur oder eine Psychotherapie. Es geht um eine nachhaltige Hilfe zur Selbsthilfe. Gute Erfahrungen am eigenen Leibe sind das beste Mittel, wirkliche Veränderungen zu bewirken. Anliegen ist es, beruflich stark geforderten Menschen eine Regenerationsmöglichkeit anzubieten, die professionelle Begleitung und qualifizierten Kontakt mit Menschen in ähnlichen Situationen ermöglicht. Angesprochen werden sollen Menschen möglichst schon vor dem akuten Burn-out, bzw. schon bei dem ersten Auftreten psychosomatischer Symptome.
Die äußere Tagesstruktur
Die erste Phase des Wanderns morgens ist ein kurzes "Einlaufen". Oft ist das der Weg wieder aus einem Ort hinaus oder jedenfalls von der Unterkunft weg, hinein in die Natur. Dabei wird mehr oder weniger viel geredet, alles ist noch unstrukturiert.
An der ersten geeigneten Stelle gibt es eine kurze Rast und dabei den Impuls für den Tag: Gedanken zu einem Thema, vielleicht eine "Aufgabe" dazu, vielleicht auch eine Geschichte.
Dann beginnt eine Schweigephase, die in ihrer Länge angepasst ist an die Struktur des Weges. D.h., es wird ein Treffpunkt ausgemacht, der sich für eine längere Rast eignet, bis dahin versuchen wir zu schweigen. In der Regel sind das ungefähr 2 Stunden, es können aber bei einer langen Tagestour auch mal 3 Stunden werden. In dieser Zeit macht jeder unterwegs für sich nach Bedarf Pausen.
Am ausgemachten Treffpunkt wird in der Regel ausgiebig gepicknickt und es werden spontan Erfahrungen und Erlebnisse ausgetauscht.
Der Rest der Tagesstrecke ist wieder weniger strukturiert: D.h., man läuft zu zweit, in Grüppchen oder in der großen Gruppe. Allerdings gilt immer, dass wir versuchen, bewusst mit dem Sprechen umzugehen. Es soll Möglichkeiten zum intimen, intensiven Gespräch geben. Wer schweigen möchte, soll weiter schweigen dürfen. Wer reden möchte, fragt die andere Person, ob sie es auch möchte. Ein "Nein" ist ausdrücklich erlaubt. Nach dem Ankommen in der Unterkunft ist Zeit zum Duschen, Ausruhen usw.
Dann treffen wir uns zu einer Gesprächsrunde, und jeder berichtet kurz, was heute wichtig war. Hier ist auch der Raum, Spannungen in der Gruppe zu besprechen oder Organisatorisches zu klären.
Das Abendessen geht oft in ein lockeres Beisammensein über, wer will zieht sich zurück. Von der körperlichen Anstrengung müde gehen wir meistens relativ früh ins Bett.
Ich habe die einzelnen Tage schon während der Wanderung dokumentiert und selbst Tagebuch geschrieben. Die jeweiligen Tagesabschnitte beginnen mit meinen Aufzeichnungen, bzw. kurzen Erläuterungen zum Tag, dann folgen Stimmen der Teilnehmerinnen aus der Gesprächsrunde und aus einigen mir zur Verfügung gestellten Aufzeichnungen. Ich gebe die Kernaussagen der Frauen wieder und lasse sie weitgehend unkommentiert stehen, weil so das Mosaik der sehr unterschiedlichen Erfahrungen während einer gemeinsamen Wanderung besonders deutlich wird. Die Tagebuchaufzeichnungen und mündliche Aussagen sind zur besseren Übersicht kursiv gesetzt.
Ein Abschnitt zum Tagesthema liefert dann ausführlichere inhaltliche Überlegungen, bzw. auch theoretische Hintergründe zum Konzept des therapeutischen Wanderns. Vor allem im Abschnitt "Atem - Spiritualität" erlaube ich mir dabei auch weitere theoretische "Umwege" als die, die wir bei der Harzwanderung in der Praxis tatsächlich gemacht haben.
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