LESEPROBE
Wie alles begann
Endlich wieder eine
Hüttentour! Endlich wieder
in die Alpen! Das Verwall sollte es diesmal sein.
Alles war bestens vorbereitet, recherchiert, das
Wandergepäck optimiert. Aber es sollte anders kommen.
Wir - Lothar und Benedicta - fuhren fröhlich
in Berlin los, meisterten eine Reifenpanne auf
der Autobahn, lernten auf diese Weise Bitterfeld
kennen - lohnt sich als Urlaubsziel nicht richtig -
und kamen gegen Abend an unserem ersten Etappenziel
am Bodensee an. Es regnete. Es regnete richtig.
Wir verbrachten den Abend und den nächsten
Morgen mit der Lieblingstante und halbstündlichen
Wetterberichten. Inzwischen regnete es nicht
mehr Wasser, sondern Buttermilch. In höheren
Lagen verklebte Schnee die Wetterkameras und die
Aussichten, dass es irgendwann besser werden
könnte, waren miserabel.
Unsere Sehnsucht
nach den Alpen wurde dadurch nicht
kleiner, wir wollten unbedingt endlich wieder auf
einen richtigen Berg. Wir versuchten es also
trotzdem und fuhren tapfer und unerschütterlich
optimistisch in das Mistwetter hinein. Wir hatten
immer irgendwie Glück gehabt! Vielleicht
hatten die Alpen ja ein Wunder für uns
übrig. Sie hatten es nicht, es regnete
ungerührt weiter und war elend kalt.
Also fassten wir kurzerhand den Entschluss,
erst einmal über die Alpen Richtung Italien,
an die Ligurische Küste zu fahren. Die Urlaubs
stimmung hatte trotz des Wetters längst von
uns Besitz ergriffen, schließlich waren wir
von Berlin bis Österreich schon den zweiten
Tag unterwegs, und wir hatten nicht das Gefühl,
dass irgendetwas diese Stimmung trüben
könnte. Munter entschlossen auf der Autobahn
unterwegs, hörten wir im Verkehrsfunk, dass
der Bernhardino auf unbestimmte Zeit gesperrt sei.
Also wieder kurz entschlossen abgebogen und Richtung
Gotthard gefahren. Kleine Straßen, immer rauf,
was der Opel hielt, das Wetter blieb scheußlich.
Irgendwann stellten wir dann fest, dass wir auf
einer Straße, einem Sträßchen waren,
auf dem wir nicht sein wollten. Mir war schon eine
Stunde lang aufgefallen, dass ich die kleinen Ort
schaften, durch die wir fuhren, auf dem Straßenatlas
partout nicht finden konnte, aber irgendwie klang
alles immer so ähnlich wie auf der Karte, so
dass wir guten Mutes immer weiter fuhren. Schließlich
hielten wir an, schauten gründlich in unsere
mehr als grobe Karte und mussten uns eingestehen,
dass wir den Gotthard verpasst hatten und quasi
querbergein durch die Alpen unterwegs waren.
Wild war es, schön war es, inzwischen regnete
es auch nicht mehr, war aber immer noch lausekalt.
Wir hatten nun
aber wirklich keine Lust mehr aufs
Autofahren und beschlossen, nur so weit zu fahren,
bis es warm würde, 25 Grad, besser noch 27 Grad.
Das Sträßchen führte Richtung Loccarno.
Warum nicht? Es wurde immer wärmer, bald
richtig heiß und blendend schön. Also gut,
falls wir einen bezahlbaren Campingplatz finden
sollten, wäre die Schweiz ja auch mal eine
Option für den Urlaub. Die Ausrüstung
hatten wir dabei. Einen Europäischen
Campingplatzführer auch. Loccarno direkt?
Nein, sicher zu laut, zu städtisch. Wir
brauchten Natur. An einer Autobahnrastsstätte
kurz vor Loccarno, gab es Informationsmaterial,
schöne Prospekte, die unseren Entschluss
schnell reifen ließen. Da war noch ein Tal
oberhalb Loccarnos, das Vallemaggia. Nie gehört,
aber wir hatten uns ja auch noch nie für
diese Gegend interessiert. Wir hatten jetzt
endgültig genug vom Auto und wollten nur
noch ankommen. Also alle Hoffnungen auf einen
der beiden Campingplätze im Vallemaggia
gesetzt und weitergefahren.
Eine Stunde später hatten wir im Campo
Paradiso unseren Platz. An der wild rauschenden
Maggia, in einem steilen Tal in paradiesischer
Südlage. Es war auch am späten Nachmittag
noch so heiß, dass ich mich nach dem
Aufbau des Zeltes in die Maggia stürzte.
Das ist natürlich übertrieben, in
Wahrheit nahm ich zwischen den riesigen Steinen
ein Planschbad, herrlich, aber höllisch kalt.
Gut, dann folgten
Tage mit schönen und
außerordentlich abwechslungsreichen
Wanderungen, das Tal rauf und runter. Wir waren
glücklich, der Wein köstlich. Das
wäre es gewesen und es wäre ein
schöner Urlaub gewesen - wenn wir nicht
eine Tour in ein Seitental, ins Valle di Campo,
nach Cimalmotto unternommen hätten.
Wir quälten
unser tapferes Auto 1200m
über Serpentinen und Haarnadelkurven hinauf,
die Südschweden wie mir das Blut in den
Adern gefrieren und den Adrenalinspiegel
hochschnellen lassen. Aber dann, oben angekommen
und ausgestiegen, der Rundblick, die Weite,
das Gefühl, gleichzeitig auf einem Berg
und in einem riesigen Tal zu stehen, wir waren
überwältigt. In diesem Moment schlug
in uns beide wie ein Blitz die Liebe zu diesem
hinterletzten Zipfelchen Schweiz ein. Weniger
pathetisch kann man es nicht beschreiben.
Unsere erste
kleine vierstündige Wandertour,
bei der wir uns mit Beeren vollstopften, ließ
unsere Begeisterung nur noch wachsen. Hier
wollten wir ein paar Tage verbringen, wenigstens
3 oder vielleicht 5? Aber wir hatten sparsamen
Urlaub geplant! Dass wir in der Schweiz gelandet
waren, erschien uns schon paradox genug. Hier
oben ein Zimmer, wie teuer mochte das sein? Zu
Beginn unserer Wanderung hatten wir einen Hinweis
auf einen Bio-Bauernhof gesehen, wo es auch
Übernachtungsmöglichkeiten geben
sollte. Also, sagten wir uns, wir können
ja mal schauen, ganz vorsichtig, ganz unverbindlich,
wir müssen ja nichts nehmen.
Was wir dann fanden,
war das reine Glück.
Nämlich ein ausgebauter Bauwagen, in dem
wir für 15 Franken pro Nase wohnen konnten,
urgemütlich und praktisch, die Berge wie
auf dem Silbertablett rundherum, ein Waschraum
über den Hof, ebenso eine große
Küche, die man für einen kleinen
Aufpreis nutzen konnte. Stille, Stille, Stille.
Gutes, einfaches Essen vom Bauernhof - das Paradies.
Wir kamen für 10 Tage und Nächte.
Und hier wäre
wieder beinahe Schluss mit
der Schreiberei gewesen. Denn mein erster Impuls
war: Das will ich ganz für mich behalten,
das erzähle ich keinem, ich will nicht,
dass so viel Herrlichkeit am Ende zu dem
berüchtigten "Geheimtipp" wird.
Durchgeatmet, nachgedacht, um mich geschaut -
wahrscheinlich wird das nicht geschehen.
Cimalmotto liegt am Ende der Welt, in den drei
Dörfern des Valle di Campo wohnen insgesamt
nur noch 20 Menschen ganzjährig. Es
gibt ein Handvoll Ferienwohnungen, die man
buchen kann. Im ganzen Tal existiert kein
Geschäft, außer dem kleinen
Hoflädchen mit Bio-Produkten. Wenn man
etwas kaufen will, den guten Bio-Käse
oder Milch oder Gemüse aus dem Garten,
dann muss man mit einer schweren Kuhglocke
bimmeln und warten, bis jemand kommt. Die
Unterkünfte hier auf dem Bauernhof sind alle
denkbar einfach, einen Unisex-Waschraum mit drei
Waschbecken, zwei Duschen und vier Toiletten
müssen sich notfalls 20 oder 25 Menschen
teilen. Rundherum gibt es auf Stunden keine Disko,
keine Animation, nur gelegentlich die Amateurfilme
des Hofbesitzers. Essen muss man, was gerade
wächst, von den Kühen gibt es eine Sorte
Käse, Wurst gibt es nur, wenn welche da ist -
wir hatten die ganze Zeit keine - eine Sorte Brot
wird regelmäßig gebacken. Wer will so
wenig Luxus im Urlaub? Wir!!!
Es ist fantastisch.
Wenn man auf der Wiese oder
auf einer der zahlreichen Bänke des Hofes
sitzt, hat man das ganz Panorama für sich,
die Seele atmet auf, die Ohren gewöhnen sich
schnell an die Stille. Warm ist es auch hier
oben auf 1800 m, sehr sogar, auch nachts wird
es nicht richtig kalt. Der Mond ist fast voll
und gibt uns so die Möglichkeit, die zum
größten Teil unzugänglichen Zacken
in unserem Bergrund auch des Nachts zu bewundern.
Cimalmotto Anfang
September, das ist Fülle pur,
das ist Wärme, das sind Früchte, Blaubeeren
im Übermaß. Und Preiselbeeren. Noch nie
haben wir sie händeweise gegessen, dunkelrot,
süß-sauer und köstlich bitter. Ein
Geschmack, der noch lange im Mund bleibt und uns immer
wieder zu unartikulierten Lauten des Entzückens
treibt. Himbeeren und Erdbeeren auch, alles, je nach
Höhe. Und wandern kann man auch. Hier muss die
Vokabel "Genusswandern" erfunden worden sein.
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